Debatte Anti-AKW-Demos: Der Protest wird pathologisiert
Der Kampf um den Atomausstieg ist noch längt nicht entschieden. Propagandisten der Atomlobby reden die Katastrophe von Fukushima schon wieder klein.
I n den ersten Tagen nach der Atomkatastrophe von Fukushima konnte man den Eindruck haben, als wäre plötzlich ein Vorhang aufgegangen und eine neue Welt zum Vorschein gekommen: "Das Restrisiko", erklärte der Umweltminister, "ist seit Japan keine statistische Größe, sondern eine reale" - als ob die Gefahr zuvor nicht ganz genauso real gewesen wäre.
Was wir gegenwärtig erleben, ist also keine Revolution der Tatsachen, sondern eine Revolution der Rezeption dieser Tatsachen. In der Wissenschaft würde man von einem Paradigmenwechsel sprechen. Thomas S. Kuhn hat dessen Charakteristika bereits vor 50 Jahren in seinem Klassiker "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" beschrieben. Ein altes Paradigma wird in der Wissenschaft demnach nicht progressiv, in vielen kleinen Schritten, sondern nur revolutionär abgelöst - und zwar erst dann, wenn die Argumente des neuen Paradigmas so übermächtig geworden sind, dass sich das alte nicht mehr halten lässt.
In der Politik gilt das umso mehr. Mit der Katastrophe von Fukushima ist das Paradigma der sicheren, da angeblich beherrschbaren Atomkraft massiv ins Wanken geraten. Hierin besteht der von Mathias Greffrath beschriebene Kairos, der günstige Moment, der AKW-Gegner (taz vom 23.3.). Doch zu voreiliger Siegesgewissheit besteht trotz der beeindruckenden Demonstrationen vom Wochenende kein Anlass. Denn schon einmal, nach dem GAU von Tschernobyl vor 25 Jahren, wurde die Gefahr der Atomkraft von der Mehrheitsgesellschaft anschließend radikal verdrängt - auch dank des massiven Drucks der Atomlobbys.
ALBRECHT VON LUCKE Jurist und Politikwissenschaftler, ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik (www.blaetter.de). Zuletzt erschienen: "Die gefährdete Republik: Von Bonn nach Berlin 1949 - 1989 - 2009" (Wagenbach Verlag)
Romantische Leidenschaften
Auch diesmal sind die alten Atompropagandisten keineswegs geschlagen, im Gegenteil. Exemplarisch zeigt sich dies in Springers Welt, seit Jahren publizistisches Hauptorgan bei der Bekämpfung der Umweltbewegung. Dort versuchten in den letzten Tagen ironischerweise fast ausschließlich ehemalige Linke oder Grüne, den aufkeimenden Protest mit allen Mitteln der ideologischen Denunziation zu bekämpfen.
Statt Empathie mit den Japanern zu üben, herrsche "sadomasochistisches Super-GAU-Gedröhne" (Andrea Seibel) und, so Exchefredakteur Thomas Schmid, vor langen Jahren Mitstreiter in Joschka Fischers "Revolutionärer Kampf"-Gruppe, eine "trübe Katastrophensehnsucht im Volk", das sich "instinktsicher und ohne jedes Zögern in die Ausstiegseuphorie" flüchtet. Dass in den vergangenen strahlend-sonnigen Tagen alles andere als Untergangsstimmung zu spüren war, kann Schmid nicht irritieren, der zu ganz schwerem charakterologischen Geschütz greift: "1945 hatten die Deutschen ihr Reservoir an romantisch-politischer Leidenschaft bis zur Neige ausgeschöpft, mit entsetzlichen Folgen." Doch dieser "romantische Raum" lebt laut Schmid weiter fort: "Es ist, als habe sich die politische Erregungsbereitschaft ganz unter das schwere Dach der Anti-Atom-Kathedrale geflüchtet, um dort eingehegt und mit den besten menschheitlichen Absichten gepflastert zu überleben."
Ist es schon atemberaubend genug, wie hier bei Schmid aus dem rassistischen Hass der Deutschen eine "romantische Leidenschaft" wird, erkennt man sogleich, wozu diese Verniedlichung taugt: Hatte Götz Aly mit seinen Kontinuitätslinien der NS-Zeit noch bei 68 und der RAF Schluss gemacht, geht Thomas Schmid weiter und nimmt gleich die ganze Bewegung der 70er und 80er Jahre in "romantische" Geiselhaft: "Wie zum Ausgleich schufen sich die Deutschen, anschwellend seit den 70er Jahren, im Anti-Atom-Diskurs einen neuen Raum der Leidenschaft, in dem von Anfang an eine vage, nicht zähmbare Angst den Ton angab. […] Da Angst nicht begründungspflichtig ist, konnte die Anti-Atom-Bewegung es sich leisten, alle Gegenargumente zu missachten, sich wort- und broschürenreich dem Diskurs zu entziehen und sich gewissermaßen genetisch im Recht zu fühlen." Hier zeigt sich Schmids eigentliches Motiv: die Diskreditierung der rationalen Argumente der Atomkraftgegner durch deren Pathologisierung.
Rationalität der Kernkraft
Wie rational dagegen der Betrieb von AKWs ist, weiß Schmid-Adlatus Gerd Held, der die ganze höhere Rationalität der Kernkraft freilegt: "Wer trotzdem an der Kernenergie festhält, tut dies, weil er andere, größere, tiefer verwurzelte Gefahren sieht: die Gefahr, dass Wärme und Nahrung, Arbeit und Mobilität für viele Nationen unbezahlbar werden. Die Gefahr der Erschöpfung der Erde durch Raubbau und CO2-Emissionen. Diese Bedrohungen" - so Held weiter, und da wird es vollends abenteuerlich - "verändern den Charakter der Kernenergie. Sie ist keine menschliche Willkür-Entscheidung, sondern wird aus einer Zwangslage betrieben. Fast" - versteigt sich Held endgültig - "könnte man hier [gemeint ist das Hochtechnologieland Japan - ein Schelm, wer nicht auch an Deutschland denkt] von einer Pflicht sprechen, die Last der Kernenergie auf sich zu nehmen."
Zugespitzter könnte die mythologische Überhöhung der Atomkraft zu einer fast schicksalshaften Notwendigkeit nicht erfolgen. Ulrich Beck, der Autor der "Risikogesellschaft", erkannte bereits frühzeitig diese "Risikodramaturgie" in Form eines "Verdrängungswettbewerbs der Großrisiken". Man müsse die atomare Gefahr gar "nicht mehr leugnen - nur die anderen Gefahren als noch größer hinstellen". Genau dies ist in den letzten Jahren geschehen, mit Erfolg: Die drohende Klimakatastrophe und die notwendigen Kohlendioxid-Reduktionen dominierten die globalen Diskurse. Auf diese Weise konnte die völlig andere Gefahrendimension von Plutonium minimiert und die Atomkraft als "grüne Brückentechnologie" verkauft werden.
Wenn die Ideologen der Welt nun Fukushima gar zur "Semikatastrophe" (Matthias Horx) kleinreden, knüpfen sie direkt an diesen Strang an. Hier zeigt sich: Der Kampf um den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft ist noch lange nicht gewonnen. Aus den letzten 25 Jahre seit Tschernobyl zu lernen bedeutet daher vor allem eins: die existenzielle Erfahrung der völligen Unbeherrschbarkeit der Kernenergie nicht ein zweites Mal zu verdrängen. Mit Atomkraft, so die Lehre von Hiroshima bis Fukushima, gibt es keine Sicherheit !
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