Debatte Agenda 2010: Becks Lesart des Aufschwungs
Der wirtschaftliche Aufstieg geht zu Lasten der Arbeitnehmer und Arbeitslosen. Becks Kratzen an den Grundmauern der Agenda 2010 genügt deshalb nicht.
N ach Monaten thematischer Irrungen verleiht Kurt Beck seiner Partei wieder etwas mehr an Selbstbewusstsein, inneren Halt und Balance, indem er - mit der geplanten Verlängerung der Zahlung des Arbeitslosengeldes I an ältere Arbeitnehmer - wenigstens einen (ersten?) kleinen Teil jener Agenda 2010 wegsprengt, die wie eine Grabplatte auf seiner Partei liegt. Und er versucht, das mehr als angeschlagene Verhältnis zu den Gewerkschaften zu revitalisieren. Auch deshalb wollte er mit Franz Müntefering keinen Kompromiss schließen, der in der Sache möglich gewesen wäre. Es ging ihm auch darum, einen Vorschlag des DGB ohne Wenn und Aber und demonstrativ sich zu eigen zu machen.
Nur wer sich noch einmal vergegenwärtigt, was mit der Agenda 2010 der SPD angetan worden ist, ahnt, was dieser Beck alles stemmen soll. Wenn die Konservativen - zugespitzt formuliert - im Prinzip in Arbeitslosen Täter sehen, weil doch jeder, der Arbeit will, auch welche findet und deshalb nur der Druck stark genug sein muss, dann haben die Sozialdemokraten in ihnen immer Opfer (des Systems) gesehen, denen geholfen werden muss. Mit der Agenda 2010 gab erstmals ein sozialdemokratischer Bundeskanzler diesen Standpunkt auf und nahm den der Konservativen ein. Und die Seite wechselte er zu einem Zeitpunkt, zu dem die Zahl der Arbeitslosen sehr hoch, damit die Chance auf eine Stelle verschwindend gering war; das war aus Sicht der Agenda-Macher nicht perfide, sondern logisch, waren die Sozialkassen doch so leer, dass die Arbeitslosen ranmussten.
Mit der Identität der Partei brachen sie noch an einer zweiten Stelle. Das Versprechen, dass Leistung sich lohnen müsse, wurde aufgekündigt: Das Arbeitslosengeld gibt es im Prinzip - egal ob fünf oder zwanzig Versicherungsjahre - noch ein Jahr. Und mit der Begründung für diese und andere Entscheidungen kam die dritte Bruchstelle: Die Globalisierung erzwinge diese Maßnahmen und es gebe keine Alternativen. Damit ernannte sich die Politik auch offiziell zum Sachzwang-Vollstrecker und dankte ab. In diesem Sinne ist die Agenda 2010 ein Dokument der Nicht-Politik, was Redenschreiber und Redner damals nicht überspielen konnten, sondern vielmehr mit ihrer bürokratischen Sprache an den Tag brachten. So wandten sich Millionen Wähler und hunderttausende Mitglieder von der SPD ab: weil eine Regierungs- und Parteispitze mehrfach mit der eigenen Identität brach und zugleich den Willen zur souveränen politischen Gestaltung aufgab. So sind nicht diejenigen, die gingen, die Unpolitischen, sondern diejenigen, die verlassen wurden.
Wie wir unsere Politiker kennen, ist es kein Zufall, dass die Wege sich jetzt trennten, kurz vor dem Parteitag, auf dem Kurt Beck spätestens - nach den vielen verdeckten und offenen Demütigungen vor allem durch Franz Müntefering - zeigen musste, wer Herr im Haus ist. Und trotzdem kann ein anderer zeitlicher Zusammenhang von keinem der Beteiligten geleugnet werden: Die Wege trennen sich mitten in einem wirtschaftlichen Aufschwung: etwas höhere Wachstumsraten, offiziell statt über 5 nun "nur" noch 3,5 Millionen Arbeitslose. Weshalb Franz Müntefering und die Seinen fragen: Wie könnt ihr jetzt abweichen von den Agenda-Geboten, jetzt, wo sie greifen? Müntefering fragt aus seiner Logik des Agenda-Machers und des verantwortlichen Arbeitsministers dies zu Recht. Für wen buchstäblich alles, was Arbeit schafft, sozial und richtig ist oder sein muss, für den ist dieser Aufschwung natürlich ein Erfolg.
Kurt Beck liest - bewusst oder instinktiv - diesen Aufschwung anders. Wenn er in dieser Minute sich von einem wesentlichen Aspekt der Agenda-Politik verabschiedet, dann sieht er zwangsläufig in diesem Aufschwung nicht den Erfolg, sondern die Niederlage der Agenda-Politik. Denn dieser Aufschwung belegt empirisch, dass sie nicht bringt, was sie versprochen hat: Die Steuerzahler haben den Unternehmen im Rahmen der angebotsorientierten Politik viele, viele Milliarden gegeben. Die Arbeitnehmer haben auf viel verzichtet; ihre Nettolöhne sind auf dem Stand von Anfang der Neunzigerjahre. Und die Arbeitslosen haben viele Zumutungen auf sich genommen. Gemessen an diesen "Leistungen" fällt der Aufschwung mit seinen letztlich wenigen zusätzlichen, meist schlechten, prekären und schlecht bezahlten Jobs richtig ärmlich aus. Weshalb sich auch niemand über ihn freut, die Konsumnachfrage verhalten bleibt, die Binnenkonjunktur nicht anspringt, die Ängste nicht weichen, sondern die Sparquote auf inzwischen über 11 Prozent treiben. Insofern wird die bescheidene und finanziell unspektakuläre Verlängerung des Arbeitslosengeldes zu einem von Kurt Beck vermutlich ungewollten politischen Akt - allein weil sie sich gegen die Freude der Agenda-Technokraten über diesen amerikanischen Aufschwung richtet, den diese Republik das erste Mal erlebt.
Wir erleben eine Art von Aufschwung, auf den Politik und Gesellschaft nicht nur mit dieser Antwort reagieren kann, die Kurt Beck eingefallen ist und die ihm schon so viel Durchsetzungskraft allein gegen den eigenen Regierungsflügel abverlangt. Denn gerade dieser Aufschwung zeigt, wie fragwürdig der Leitsatz ist, jede Arbeit sei besser als keine. Er zeigt, wie wenig sich sogar in Zeiten des Wachstums Leistung, eine gute Qualifikation und ein Sich-Anstrengen lohnen und in eine sichere Arbeit mit ausreichendem Einkommen eingetauscht werden können. Diese Befunde erzwingen eine Diskussion, die bereits in dem Konflikt um das länger zu zahlende Arbeitslosengeld anklingt: Für wen ist das - für den älteren Arbeitslosen oder denjenigen, der ausreichend viele Versicherungsjahre vorweisen kann? Gilt das Prinzip der Bedürftigkeit oder das der Leistung? Muss es nicht nach dem Prinzip der Leistung gehen, weil dem Bedürftigen per se zu misstrauen ist? So wie jedem Bezieher des Arbeitslosengeldes II misstraut wird, den die Bürokratie mit Kontrollen überzieht, ihm seinen Status als souveränen, respektierten Bürger nimmt, bevor er auch nur einen Euro erhält. Muss der Mensch zur Arbeit gezwungen werden, weil er lieber auf Kosten anderer faulenzen will, so wie es die Agenda 2010 unterstellt? Ja, vermutlich muss er gezwungen werden, eine miese Arbeit zu schlechter Bezahlung mit 100 Kilometer Anfahrtszeit anzunehmen. Denn nur eine gute Arbeit ist für ihn Bedürfnis, bringt ihm Selbstbewusstsein und verschafft ihm Identität. Weshalb in unserer Republik, einer der reichsten Industrienationen der Welt, weniger über die Faulheit der Arbeitslosen und den notwendigen Druck auf sie als über die zu hohe Zahl mieser Jobs gesprochen werden sollte; Jobs, zu denen man nur Nein sagen kann. Das wäre dann eine politisch gewichtigere Antwort auf die Agenda 2010 und deren Folgen als die nun von Kurt Beck geplante 800-Millionen-Euro-Korrektur: Wie der politische und souveräne Bürger auch dann politischer souveräner Bürger bleiben kann, wenn er auf Arbeitssuche ist, und das nicht selten sogar vergeblich.
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