Debatte Afrika 2010: Frei, um abhängig zu sein
50 Jahre nach dem Rückzug der Kolonialmächte bleibt ihr Einfluss groß - trotzdem hat Europa seinen "Hinterhof" nicht mehr im Griff.
S iebzehn afrikanische Länder feiern dieses Jahr den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit, zahlreiche davon am oder um den 1. Juli herum. Doch ob in den ehemaligen französischen Kolonien West- und Zentralafrikas, ob im einst belgischen Kongo, ob im ehemals britischen Nigeria oder in Somalia: Überall hängen bis heute sämtliche zentralen gesellschaftlichen Bereiche von Europa ab. Die Entkolonisierung nämlich wurde in einer Weise vollzogen, die den Kolonialmächten ein Maximum an Einfluss sicherte; und dies macht sich bis heute bemerkbar.
Angesichts der historischen Entwicklungen weltweit waren die Kolonialmächte in den 50er Jahren in die Defensive geraten. Im Zweiten Weltkrieg hatten Afrikaner auf der Seite der Alliierten zum Sieg gegen Nazideutschland beigetragen. Dann folgte die Unabhängigkeit Indiens 1948, die maoistische Revolution in China 1949, und die Franzosen mussten 1954 die Niederlage im vietnamesischen Dien Bien Phu hinnehmen. Auch der Krieg in Algerien sowie die Dekolonialisierung der meisten nordafrikanischen Länder fanden in den 50er Jahren statt, nicht zu vergessen die Unabhängigkeit von Ghana 1957 und von Guinea im Jahr 1958. Kurzum: Die Kolonialmächte hatten keine Wahl mehr, sie mussten sich zurückziehen.
Doch anders als die Briten hatten die Franzosen nicht vor, sich vom Unabhängigkeitsprozess überrollen zu lassen, sie wollten ihn gestalten. Frankreich behielt die Kontrolle über die ökonomischen Ressourcen und gab zugleich die Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung ab. Zu diesem Zwecke wurde lediglich die Souveränität einer lokalen, loyalen Elite übertragen. Auch die Errichtung von Einparteienregimen in fast allen Ländern war eine logische Konsequenz dieser gezielten und limitierten Ermächtigungspolitik, die jeden Widerstand von unten zu brechen erlaubte.
ist freier Journalist und Autor in Brüssel und berichtet seit Jahrzehnten regelmäßig aus und über Afrika sowie die europäisch-afrikanischen Beziehungen, vor allem für die taz und das frankofone BBC-Programm. Dieses Jahr veröffentlichte er zusammen mit Marie-France Cros das Kongo-Einführungsbuch "Le Congo (RDC) de A à Z", André Versailles, Paris
Dies ging keineswegs ohne Gewalt. Nationalistische Führer, die sich dem französischen Entkolonisierungsmodell widersetzten, wurden entweder isoliert, wie Sékou Touré in Guinea, oder getötet. In Madagaskar wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein antikolonialer Aufstand niedergeschlagen, 89.000 Menschen starben. In Kamerun griff die den Kommunisten nahestehende Union der Völker Kameruns (UPC) 1955 zu den Waffen und kämpfte auch gegen die neue unabhängige Regierung nach 1960 weiter, während ihr Führer Félix Moumié in Genf vergiftet wurde. Togos nationalistischer Führer Sylvanus Olympio wurde 1963 vom späteren Präsidenten Gnassingbé Eyadema umgebracht, der daraufhin bis 2005 regierte. Die Todesumstände des Nationalistenführers der Zentralafrikanischen Republik, Barthélémy Boganda, in einem Flugzeugabsturz ein Jahr vor der Unabhängigkeit bleiben mysteriös; aber sein Tod machte Politikern den Weg frei, die europäischen Pflanzern besser gesonnen waren. Die Ermordung Patrice Lumumbas im Kongo 1961 fügt sich ebenfalls in dieses Schema ein.
All dies garantierte, dass dem ehemaligen Mutterland ergebene Eliten die Politik der neuen unabhängigen Staaten kontrollierten. Und diese wiederum sorgten in den Folgejahren für engstmögliche Beziehungen zu den ehemaligen Kolonialmächten. Alles in allem war die Entkolonisierung ein gelungener Schachzug der Kolonisatoren, sich an die neue Weltlage anzupassen, ohne allzu viel zu verlieren. Sie war für Afrika nicht das Ergebnis eines Kampfes, sondern ein Geschenk.
Die Ergebnisse all dieser frühen Weichenstellungen prägen nicht nur die Politik, sondern auch die jeweiligen Ökonomien der afrikanischen Länder bis heute. Die ehemals französischen Kolonien verwenden noch immer die gemeinsame Kolonialwährung des CFA-Franc, der von der Pariser Zentralbank aus verwaltet wird. Mit wenigen Ausnahmen ist die EU insgesamt gesehen der wichtigste Handelspartner, Gläubiger und Geber aller 17 Länder, die 1960 unabhängig wurden. Die meisten afrikanischen Länder haben nur Richtung Europa reguläre transkontinentale Flugverbindungen; die meisten audiovisuellen Medien hängen von europäischen Partnern wie BBC, RFI oder Deutsche Welle ab. Es ist eine asymmetrische Beziehung: Für Europa ist Afrika relativ unwichtig, für Afrika ist Europa noch immer der wichtigste Partner. Und doch zeichnen sich Verschiebungen im Gefüge ab.
Asien wird für Afrika wichtiger, wenngleich Europa versucht, seine wirtschaftliche Vormachtstellung durch die EPA-Freihandelsabkommen zu bewahren. Und je größer der Abstand zur Kolonialzeit wird, desto mehr nehmen die militärischen Aktivitäten Europas in Afrika zu. Dies ist nur scheinbar ein erneutes Erstarken europäischen Einflusses; es verbirgt tatsächlich Hilflosigkeit.
Neue militärische Brille
Frankreich unterhält zwar seit der Kolonialzeit Militärstützpunkte in Senegal, Gabun und Tschad, dazu in Dschibuti; mehrere Länder sind Frankreich noch immer mit Verteidigungsabkommen verbunden, die zumeist geheime Zusatzklauseln beispielsweise über die präferenzielle Lieferung strategischer Rohstoffe wie Öl, Uran oder Lithium enthalten, und Frankreichs Regierung hat das versprochene Ende dieser Geheimverträge noch nicht umfassend umgesetzt. Eine EU-Eingreiftruppe (Eufor) wurde 2003 und erneut 2006 im Kongo aktiv, eine weitere wurde 2008 für ein Jahr nach Tschad und in die Zentralafrikanische Republik geschickt, und vor Somalias Küste beteiligt sich die EU-Marinemission "Atalanta" am Kampf gegen Piraterie. 100 bis 200 EU-Militärausbilder werden dieses Jahr rund 2.000 somalische Soldaten in Uganda ausbilden.
Diese Aktivitäten sind auch ein Eingeständnis dessen, dass Europa Afrika nicht mehr so gut im Griff hat wie früher. Lange Zeit betrachtete Europa Afrika vor allem durch die Brille des Ost-West-Konflikts als periodisch heißen Schauplatz des Kalten Krieges - was auch zur Folge hatte, dass die Entkolonisierung im südlichen Afrika sehr viel länger dauerte als anderswo und dass Diktatoren bedenkenlos unterstützt wurden, solange sie prowestlich auftraten. Nach dem Ende des Kalten Krieges machte Europa den Fehler, Afrika weiterhin als unbedeutend zu betrachten, denn strategisch schien der Kontinent jetzt wertlos. Europa hielt folglich zunehmend Distanz zu seinem afrikanischen Hinterhof. Die Ergebnisse dieser Abstandnahme - verstärkte Instabilität, Migrationsströme, Rohstoffkonflikte - haben Afrika zu einer sicherheitspolitischen Herausforderung eigener und sehr komplexer Art gemacht.
Heute ist Europa froh, wenn es einzelne Länder dank "guter Regierungsführung" als stabile Entwicklungsmodelle loben kann, die den eigenen Außenhandelsinteressen entgegenkommen. Von den Schachzügen des Jahres 1960 ist wenig übrig geblieben. Doch Afrika hat eine endgültige Herauslösung aus den alten Bindungen, die es auf Gedeih und Verderb mit Europa verknüpfen, noch nicht geschafft.
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