Debatte Afghanistan-Krieg: Rückzug ist keine Lösung

Der Westen muss in Afghanistan einen Neuanfang wagen. Einen gescheiterten Staat zu hinterlassen kann er sich dort nicht leisten.

Die lange erwartete Afghanistan-Strategie von US-Präsident Barack Obama hat einen Nachteil: Sie ist keine - zumindest nicht für Afghanistan. Sie dient vor allem dazu, der Heimatfront in den USA zu signalisieren, dass dieser Krieg nicht ewig dauern wird.

Wenn dies mehr sein soll als das Eingeständnis einer Niederlage, ist es nötig, all jene Fragen zu beantworten, die Obama offengelassen hat: Wie soll man in wenigen Jahren die afghanischen Sicherheitskräfte in die Lage versetzen, das Land zu kontrollieren, wo man es selbst in den vergangenen acht Jahren nicht geschafft hat? Und wer soll der "zuverlässige" Partner in Kabul sein, mit dem man dieses Vorhaben umsetzen will? Hamid Karsai gemeinsam mit sogenannten moderaten Taliban?

Der Westen kann sich nicht davon verabschieden, den Staatsaufbau in Afghanistan voranzutreiben. Eine halbwegs verantwortliche Regierung bekommt man aber nicht durch Druck oder Appelle an Hamid Karsai zustande oder indem man ihn zwingt, noch mehr Extremisten ins Kabinett zu holen - und eine handlungsfähige Armee nicht ohne staatliche Strukturen. Jeder Versuch, Afghanistan auf dem Niveau einer mittelalterlichen Stammesgesellschaft zu konservieren, wie es dem Nachbarland Pakistan vorschwebt, wird dagegen nur zu einer Fortsetzung des Kriegs aller gegen alle am Hindukusch führen. Und der ist, man kann es nicht oft genug sagen, immer noch ein Stellvertreterkrieg.

Kämpften im 19. Jahrhundert Großbritannien und Russland um die Vorherrschaft in Afghanistan, so waren es im 20. Jahrhundert die Sowjetunion und der Westen. Heute sind es die Atommächte Pakistan, Indien, China, Russland und die potenzielle Atommacht Iran. Wenn Obama heute versucht, den Krieg in Afghanistan auf einen Krieg gegen al-Qaida zu reduzieren, vergisst er, dass das Ziel seines Vorgängers - die "Demokratisierung des Nahen Ostens" - die unrealistische und überzogene Antwort auf eine reale geostrategische Herausforderung war.

Diese Herausforderung besteht fort. Denn die Region bleibt nicht nur die "gefährlichste der Welt" (Bill Clinton). Hier wird auch entschieden, wer in Zukunft im Konzert der Großmächte die führende Rolle spielen wird. Das autokratische China oder das demokratische Indien? Welche Rolle wird Russland spielen? Ein atomar bewaffneter Iran wird das Gleichgewicht der Kräfte im Nahen Osten dauerhaft verschieben. Obama hingegen hat auf die bevorstehende Verschiebung der weltweiten Kräfteverhältnisse noch nicht einmal den Versuch einer Antwort vorgelegt. Aber das Problem wird nicht dadurch verschwinden, dass man es ignoriert.

Afghanistan wird Schauplatz von Stellvertreterkriegen bleiben, wenn jetzt keine echte Lösung für das Land gefunden wird. Was das bedeuten würde, zeichnet sich jetzt schon ab. Denn neben dem Aufbau der afghanischen Armee bewaffnen die USA heute schon wieder lokale Milizen, die sogenannten Arbakai - in der Hoffnung, die Lage kurzfristig zu stabilisieren. Nur: wer sammelt die Waffen wieder ein? Niemand. Alle Warlords in Afghanistan sind heute noch mächtig, weil sie in der Vergangenheit Geld und Waffen aus dem Ausland bekommen haben.

Weitere Probleme schweißen den Westen und Afghanistan zusammen. Die Drogenwirtschaft hat erheblichen Anteil daran, dass sich Afghanistan zum "Narkostaat" mit mafiösen Strukturen entwickelt hat. Wer die Korruption dort bekämpfen will, muss das Drogenproblem angehen. Und wo die Konsumenten harter Drogen sitzen, ist bekannt: in den USA und Europa.

Ein weiterer Aspekt: Flüchtlinge aus Afghanistan sind heute in alle Welt verstreut und stellen nicht nur in Pakistan ein Reservoir, aus dem Terroristen ihren Nachwuchs rekrutieren. Da man den Terrorismus mit Waffengewalt allein nicht besiegen kann, muss man seine Ursachen bekämpfen. Dazu gehören Unsicherheit und fehlende staatliche Strukturen in Afghanistan und anderen Ländern.

Und schließlich der Terrorismus selbst: Glaubt Obama, dass sich diese globale Ideologie dadurch erledigen lässt, dass man Ussama Bin Laden und die Spitze seiner al-Qaida festnimmt? Warum sollten die Extremisten ihren Aufstand gegen die westliche Welt und das liberale Wertesystem ad acta legen, nur weil ein paar Taliban an der Regierung in Kabul beteiligt werden?

Der "Dschihadismus" ist längst vielen Kräften höchst dienlich: etwa Teilen des pakistanischen Militärs als Waffe gegen den Erzfeind Indien. Für Saudi-Arabien, um seinen Einfluss in der islamischen Welt zu behaupten. Und für diverse autokratische Regime, um sich gegen demokratische Umtriebe zu wappnen. Ein schwaches Afghanistan, mit den Taliban und anderen Extremisten in der Regierung, wird auf Dauer ein Nährboden für diese Kräfte sein.

König Zaher Schahs goldene Ära

Die einzige Antwort auf all diese Herausforderungen ist ein funktionsfähiger afghanischer Staat. Es ist bisher gar nicht versucht worden, staatliche Institutionen in Afghanistan aufzubauen. Stattdessen wurde Demokratisierung auf das Abhalten von Wahlen reduziert und eine Regierung Karsai installiert, die den Mechanismus zur Selbstzerstörung in Form von Korrupten, Kriminellen und Kriegsverbrechern bereits in sich trug. Dabei gibt es durchaus Ansatzpunkte dafür: Wer heute mit Afghanen spricht, hört praktisch unisono, die Zeit von König Zaher Schah sei die beste Zeit in der neueren Geschichte des Landes gewesen. Warum? Weil Zaher Schah ein vorsichtiger Modernisierer war, der die konstitutionelle Monarchie einführte und sein Land nicht mit der Brechstange zu reformieren versuchte.

An diese Zeit vor dem staatlichen Zusammenbruch sollte angeknüpft werden. Dazu ist es notwendig, auf einer Loja Dschirga erneut über die afghanische Verfassung zu beraten. Die Präsidialverfassung, die auf Druck der USA 2002 zustande kam, wird der Geschichte und Struktur des Landes nicht gerecht. Würden die lokalen Gouverneure direkt gewählt und den Provinzen eine größere Autonomie eingeräumt, wäre ein Großteil der Unzufriedenheit mit der Zentralregierung, die den gegenwärtig so erfolgreichen Aufstand nährt, ausgeräumt.

Erst in einem Staat, dem sich alle Provinzen und seine Bürger zugehörig fühlen, kann eine starke Armee entstehen, in der junge Männer zu dienen und zu kämpfen bereit sind. Afghanistan braucht einen neuen, ernsthaften Versuch des "state building". Und es braucht dabei unsere Unterstützung.

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