David Graebers Buch „Bürokratie“: Klischee als Wissenschaft
David Graebers Buch „Schulden“ war ein Bestseller. In „Bürokratie“ zeigt sich erneut die Liebe des Anthropologen zum Allgemeinplatz.
Das Muster ist bekannt: Landet ein Autor einen Bestseller wie David Graeber vor vier Jahren mit „Schulden“, schickt ihn der Verlag möglichst bald mit einem Zweitbuch ins Rennen. Das ist im Fall von Graebers „Bürokratie. Die Utopie der Regeln“ wörtlich zu nehmen: Die drei Hauptkapitel entstanden unabhängig voneinander. Zusammenhalten sollen das Buch eine Einleitung und ein Anhang. Ein Buch wurde daraus nicht.
Graeber ist bekannt geworden durch sein Engagement in globalisierungskritischen Bewegungen wie Occupy. Er schreibt seine Bücher als „Anarchist und Anthropologe“. Wie beide Qualifikationen zusammenhängen, sagt er leider nicht, und die Ankündigung des Buchs durch den Verlag folgt der Waschmittelwerbung älteren Datums: „David Graeber, der bedeutendste Anthropologe unserer Zeit, entfaltet eine fulminante und längst überfällige Fundamentalkritik der globalen Bürokratie!“
Das Buch ist weder eine Geschichte noch eine Theorie der Bürokratie. Von den großen Soziologen, die sich mit der Bürokratie auseinandergesetzt haben, zitiert er nur Max Weber und beschränkt sich sonst auf feuilletonsoziologische Aperçus und Klischees von der Stange. So spricht er en passant vom „Zusammenbruch aller Wohlfahrtsstaaten“, obwohl das nicht einmal auf die USA zutrifft, die nie ein Wohlfahrtsstaat waren. An keiner Stelle des Buchs wird deutlich, was genau Graeber mit „Bürokratie“ meint. Einmal polemisiert er ganz allgemein gegen „die Welt des Papierkrams“, dann gegen den „bürokratischen Kapitalismus“ oder die „räuberische Bürokratisierung“.
Das Buch lebt nicht von Argumenten, Zahlen und Fakten, sondern von Kuriositäten, von denen man nicht ahnen kann, wofür sie stehen: Wer in den USA sein Bankkonto mit 5 Dollar überzieht, soll dafür 80 Dollar an Gebühren zahlen. Unter Bürokratisierung fallen für Graeber aber auch differenzierte Studiengänge. So hält er Bibliothekswissenschaft schlicht für überflüssig.
Die begriffliche Unschärfe hat Methode
Maßlos überschätzt Graeber die globalisierungskritischen Proteste seit dem Gipfeltreffen in Seattle (1999). Er hält sie für eine „wirkungsvolle Strategie“, mit der der Internationale Währungsfonds (IWF) aus „fast allen Ländern der Welt verbannt“ worden sei. Im Anmerkungsteil räumt er dann weniger großspurig ein: „Offenkundig konnte die planetarische Bürokratie ihre Position behaupten.“
Fünf Jahre Grün-Rot in Baden-Württemberg. Läuft der Laden weiter? Wie sich das „Ländle“ nach dem Machtwechsel entwickelt hat – und von wem die Menschen repräsentiert werden möchten. Zehn Sonderseiten zur Landtagswahl in der taz.am wochenende vom 5./6. März. Außerdem: Unser Leben wird immer mehr von Algorithmen beeinflusst. Müssen wir anfangen, ihnen Ethik beizubringen? Und: Vor fünf Jahren explodierte das Kernkraftwerk Fukushima. Die Anwohner wurden evakuiert. Wie ist es, zurückzukehren? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Die begriffliche Unschärfe hat Methode. „Globalisierung“ setzt Graeber in eins mit „Bürokratisierung“, was eine spannende These wäre, wenn er sie denn ausführte und belegte. Bürokratisierung meint aber auch das Ausfüllen eines 40-seitigen Onlineformulars bei der Einschulung eines Kindes oder den „Zwang“, eine Benutzerkarte vorzuzeigen beim Betreten einer Universitätsbibliothek.
Wohl bedingt durch seine Tätigkeit als Anthropologe, hat Graeber eine fatale Vorliebe für anthropologische Gemeinplätze, die soziale und historische Analysen ersetzt: „Menschen sind soziale Wesen.“ Oder: „Die Art und Weise, wie ein Mensch etwas macht, wird davon bestimmt, was er ist.“ Oder: „Die meisten Menschen sind in der Lage, zumindest oberflächlich zu erkennen, was andere denken oder fühlen.“ Ungefähr so denkt sich auch der Stammtisch die Welt handlich zusammen. Graeber hält es für einen unzumutbaren bürokratischen Zwang, dass Anthropologen „ihre traditionell differenzierte, raffinierte Vorgehensweise in ein Korsett ausdrücklicher Regeln pressen“, das heißt, ihre Methoden stringent und nachvollziehbar begründen.
Der Bürokratie setzt Graeber den Begriff „Fantasie“ entgegen. Institutionalisierte Verfahren sind prinzipiell „entfremdeter Natur“ und verengen „Möglichkeitshorizonte“ für „reale Demokratie“, die Graeber bei den Gipfelprotesten 1998–2003, im Arabischen Frühling und bei den Protesten in Spanien und Griechenland am Werk sah. Was inzwischen aus diesen „Realitäten“ geworden ist, diskutiert der Autor nicht.
Radikale Vereinfachung
Dafür wartet er an anderer Stelle mit einer fantasievollen etymologischen Erklärung auf: „Realistisch“ zu sein, Realitäten anzuerkennen heiße, „Gewaltandrohung ernst zu nehmen“. Das spiegle sich auch in der Sprache. Die Wurzel für das englische Wort „real estate“ („Gebäude“) sei nicht das lateinische Wort „res“ („Sache“), sondern das spanische Wort „real“ („königlich“). Daraus zieht er den abenteuerlichen Schluss: „Das gesamte Land innerhalb eines Herrschaftsgebiets eines Königs gehört dem Monarchen – rein rechtlich ist dies noch immer der Fall. Deshalb besitzt der Staat auch das Recht, seine Regeln und Verordnungen durchzusetzen“, was „letztlich immer“ auf „Gewalt“ hinauslaufe.
David Graeber: „Bürokratie“. Aus d. Engl. v. H. Freundl u. H. Dedekind. Klett-Cotta, Stuttgart 2016, 319 Seiten, 22,95 Euro.
„Radikale Vereinfachung“ und „kalkulierte Ignoranz“, zu denen sich Graeber programmatisch bekennt, sind definitiv keine guten Rezepte für eine soziale Theorie.
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