David Foster Wallace-Roman übersetzt: Das Irrenhaus ist unsere Welt
"Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace ist todkomisch, aber ganz sicher nicht heiter: Zugespitzte Gegenwart zwischen Tennisakademie und Entzugsklinik.
David Foster Wallace Roman "Unendlicher Spaß" ist hinter den Mythen, die ihn umgeben, bei seinem Erscheinen in deutscher Übersetzung fast schon verschwunden. Der Autor selbst wurde zum Mythos spätestens seit seinem Suizid vor rund einem Jahr. Aber auch der im Original 1996 erschienene Roman selbst produziert Mythen. Er ist eines jener Werke, die mehr beraunt als (zu Ende) gelesen werden und beeindruckt zuallererst durch den schieren Umfang: In der Übersetzung von Ulrich Blumenbach, an der dieser sechs Jahre lang saß, sind es mehr als 1.500 Seiten.
Internetlesegruppen und Dechiffriersyndikate haben längst mit der Interpretationsarbeit begonnen. Sie wenden und sichten jede einzelne Anspielung, jedes vermeintlich oder tatsächlich der Deutung bedürftige Wort. Was alles erst mal den Eindruck erweckt, dass das Buch in die "Finnegans Wake"- oder "Zettels Traum"-Kategorie gehört, in die Reihe jener Werke also, die man vermeintlich gar nicht lesen, sondern von Anfang an nur studieren kann.
Dieser Artikel ist Teil der Sonntaz-Ausgabe vom 22./23. August.
Nun stimmt das natürlich für die beiden genannten heiligen literarischen Monster schon nicht und noch weniger für den "Unendlichen Spaß". Der nämlich erstreckt sich zwar lang und weit und in der Tat scheinbar unendlich vor dem lesenden Auge, jedoch ist und bleibt die Landschaft, die man mit der Lektüre betritt, nicht verrätselt oder in enigmatischer Sprache verfasst. Gewiss, die berüchtigte Liebe des Autors zu seinem Fremdwörterlexikon und zu teils weit abgelegenen Bereichen des Wissens ist unübersehbar, aber im Prinzip ist die Erzählweise des Romans realistisch, vielmehr, was dann doch wieder etwas anderes ist, hyperrealistisch.
Das beginnt mit der räumlichen Situierung. So detailgenau wie "Unendlicher Spaß" war vermutlich noch kaum ein Roman je verortet. Die zentralen und im Wortsinn erschöpfend beschriebenen Schauplätze liegen in Boston.
Da ist zum einen die Tennisakademie ETA, im (fiktiven) Stadtteil Enfield und, ihr fast unmittelbar benachbart, eine Entzugsklinik namens Ennet-Haus, deren psychiatrische Atmosphäre durchaus in Richtung Tennisakademie ausstrahlt. Aus diesen beiden Institutionen - Inbildern je einer ganzen Welt - rekrutiert der Roman weite Teile seines Personals. Lädiert und von irgendeiner Art von mentalem Leiden zerfressen sind sie alle, Opfer eines gesamtgesellschaftlichen Suchtsyndroms, dessen Formenkreis Foster Wallace unendlich einfallsreich, ja obsessiv ausschreitet.
Dies, das Ausschreiten des Suchtsyndrom-Formenkreises, von Drogen aller Art zu Entertainment und Sport, ist denn auch die eigentliche Erzählbewegung des Romans, der in der Zeit immer wieder vor- und zurückspringt. Spannung oder auch nur die Entwicklung einer Handlung im engeren Sinn gibts dabei nicht. Es gibt nur Verdichtungen, Vernetzungen, Überkreuzungen und Verfehlungen. Und Motiveinführungen, Motivvariationen, Motivwiederhoungen.
Was "Unendlicher Spaß" eine Grundstruktur gibt, sind zwei Vernetzungsformen: Familie, also Genealogie, und Zwangs- bzw. Notgemeinschaft. Das Buch ist auf einer seiner Ebenen auch ein Familienroman. In der in die Zukunft verlegten Erzählgegenwart ist James Incandenza, der Vater der drei Brüder Hal (Tennisspieler), Mario (geistig und körperlich behinderter Filmemacher) und Orin (Footballspieler), bereits tot. Genauer gesagt: Er hat seinen Kopf in eine extra dafür umgebaute Mikrowelle gesteckt. James Incandenza war Tennisspieler, Gründer der Enfielder Tennisakademie, vor allem aber auch Filmemacher.
Sterben vor Vergnügen
Sein künstlerisches Schaffen wird neben vielen anderen Dingen im ebenfalls sehr berüchtigten, über hunderte Seiten sich erstreckenden Fußnotenanhang filmografisch aufgearbeitet. Es reicht von obskursten Avantgardewerken bis zu Annäherungen an den Mainstream. Ein Incandenza-Film ist auch das Zentrum, das Dingsymbol, das Mysterium, die Super- und Megadroge des Romans: Wer diesen Film ansieht, der "Unendlicher Spaß" oder auch einfach "Die Unterhaltung" (im Original: "the entertainment") heißt, wird vor Vergnügen hirnlos, stirbt oder will fortan von der Welt nichts anderes haben als nur noch den Film.
Dies ist die Sucht in äußerster Reinform, Inbegriff einer Begehrensstruktur, bei der die Lust vollends in tödlichen Zwang umschlägt. Die Sucht und die Flucht vor ihr motivieren sehr konsequent fast alle und alles in diesem Roman. In größter Ausführlichkeit werden etwa die unterschiedlichen Therapieansätze verschiedener AA-Gruppen vorgestellt. Keinem gelingt wirklich der Ausgang in die Suchtfreiheit - was den "Unendlichen Spaß" zu einem gelegentlich zwar todkomischen, aber ganz sicher nicht heiteren Werk macht.
Der Titel des Buchs beschreibt unsere Gegenwart, wie David Foster Wallace sie sieht. Diese durch zuspitzende Verfremdung kenntlich zu machen ist das zentrale Verfahren. Das heißt: Einzig der Zuspitzung wegen, nicht aber in Science-Fiction-Absicht ist das hauptsächliche Geschehen in die Zukunft verlegt. Hier werden die Jahre nicht mehr gezählt, sondern nach Sponsoren benannt ("Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche", "Jahr des Glad-Müllbeutels"). Eine Zukunft auch, in der Kanada, Mexiko und die USA zu einem O.N.A.N. genannten Gebilde vereinigt sind. Dieses nordamerikanische Reich wird von einer Quebecer Separatistengruppe von Rollstuhlfahrern attackiert, die auch versucht, den tödlichen Incandenza-Film in die Finger zu bekommen.
Endlos geschichtet und in sich gefaltet ist die Textur dieses Romans. Es gibt darin keinen privilegierten Punkt. "Unendlicher Spaß" praktiziert das Erzählen als All-Over, als akribische Bearbeitung einer Oberfläche, die zwar den Ausgriff in viele Bereiche kennt, Dichtepunkte, komische Crescendi ebenso wie - und nicht zu knapp - das monotone Totlaufen in der endlosen Reihung von Wahnwitz. Und zwar ist das alles auf eine kaum überschaubare Zahl von Stimmen verteilt, die in Ulrich Blumenbachs Übersetzung neben vielen anderen die Sprachen der Jugend, der Wissenschaft, der Filmtheorie oder auch mal Baslerdeutsch sprechen. Der Grundton freilich ist von seltsamer Umständlichkeit, mit jugendsprachlichen Flapsigkeiten und Fachvokabular gleichermaßen durchsetzt. Ein sehr eigener Sound, der den Grundzug des Buchs nur noch einmal verstärkt: Das Wallace-Universum von "Unendlicher Spaß" kennt kein Außen. (Und, denkt man allzu oft: auch kein Ende.)
Künstliche Beleuchtung
Es ist, als erschiene in diesem Roman einer Gesellschaft, die nur aus der Unterhaltung/der Droge verfallenen Individuen besteht, nichts in natürlichem Licht. Es gibt hier nur Licht als Beleuchtungseffekt. Die Welt von "Unendlicher Spaß" ist durchweg künstlich und in ihrer wahnhaften Künstlichkeit zugleich scharf und übergenau in den Blick gefasst. Auch sprachlich. Die Wörter sind organisiert zu einer arhythmisch vorwärts drängenden Masse von Sätzen, die große Schwierigkeiten mit dem Aufhören haben und, sich immer tiefer ins Detail bohrend, nie auf den Punkt kommen. Oder auch: auf viel zu viele Punkte auf einmal. Das Endergebnis ist trotz stringenter motivischer Durcharbeitung seltsam amorph, Absatz für Absatz, Abschnitt für Abschnitt, auch im Ganzen.
Was dabei herauskommt, ist ein Gesellschaftsroman als monströser Chor für emotional schwer beschädigte Stimmen. Das Bild der Gesellschaft, das im komponierten Durcheinandersingen des Individuenchors entsteht, ist darum selbst psychotisch, Ergebnis einer unkontrollierbaren, unendlichen Sprachproduktion. Auch und gerade die Politik ist fantastisch deformiert, die Fortsetzung eines James-Incandenza-Films mit möglicherweise nicht einmal anderen Mitteln.
Ganz zweifellos will David Foster Wallace mit dem Roman seiner Zeit einen Spiegel vorhalten. Dieser Spiegel aber verzerrt alle Wirklichkeit dermaßen stark, dass man die Haltung des Werks zu dem, was er als Gesellschaft vor Augen stellt, kaum als kritisch bezeichnen kann. "Unendlicher Spaß" schlingt obsessiv Reales in sich hinein und verwandelt, was Wirklichkeit war, extrem detailgetreu in heillosen Wahn.
Der Roman selbst ist, buchstäblich, ein Irrenhaus. Und seine Insassen sagen durch den Lärm der wild durcheinandersprechenden Stimmen im Grunde nur eins: Dies Irrenhaus, liebe Leserin, lieber Leser, ist meine, aber auch deine, ist unsere Welt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid