Datenschutz beim Jobcenter: Kontoauszug im Gebüsch
Der Antrag einer Bremer ALG-II-Bezieherin gelangt aus dem Jobcenter-Briefkasten auf die Straße - ein Problem, das der Bundesdatenschutz-Beauftragte schon 2011 bemängelte.
![](https://taz.de/picture/177732/14/jobcenter_datenschutz1.jpg)
BREMEN taz | Ein Anruf am Abend: „Ich weiß, dass Sie allein wohnen und was Sie in den letzten Monaten verdient haben.“ Der Unbekannte am anderen Ende des Telefons kennt zahlreiche Details aus Anna Schmidts* Leben. All das zumindest, was aus ihrem Antrag auf Arbeitslosengeld hervorgeht, den sie ein paar Stunden zuvor persönlich in den Briefkasten des Jobcenters Bremen-Mitte geworfen hatte – im Inneren, in der Wartehalle. Der Anrufer fand Schmidts komplette Unterlagen abends im Gebüsch. Das war Ende November. Dabei hatte der Bundesdatenschutzbeauftragte auf das Problem der unsicheren Briefkästen beim Jobcenter Bremen schon vor über einem Jahr hingewiesen. Erwerbslosenberatungen berichten, dass regelmäßig Briefe verschwinden. Erst jetzt soll sich etwas ändern.
Der Finder hatte Anstand – mit seinem Anruf wollte er Schmidt warnen. Ein Übeltäter hätte mit ihren Daten einiges anstellen können: Kontoauszüge der letzten drei Monate lagen offen herum, Krankenkassen-Bescheinigung, Mietvertrag, frühere Gehaltsabrechnungen.
Dass ein so offener Einblick in ihre Privatsphäre möglich war, findet Schmidt „gruselig“. Sie wendet sich an den Bundesdatenschutzbeauftragten und trifft auf Verständnis: Bereits 2011 hatte der das Bremer Jobcenter nach einem „datenschutzrechtlichen Kontrolltermin“ auf die unsicheren Briefkästen hingewiesen: „Diese Briefkästen waren durch ihre geringe Größe und ihre Standorte nicht ausreichend vor unberechtigten Zugriffen geschützt“, antwortet Juliane Heinrich, Sprecherin des Bundesdatenschutzbeauftragten, der taz. Der Bundesbeauftragte habe „das Jobcenter Bremen aufgefordert, diese Briefkästen durch größere Exemplare ersetzen und regelmäßig leeren zu lassen“. Im Zuge der Kontrolle seien auch weitere datenschutzrechtliche Mängel festgestellt worden, das Verfahren sei aber frühestens Ende Januar abgeschlossen.
Es droht nicht nur Datenklau
Dass im Jobcenter Bremen immer wieder Unterlagen verschwinden, ob aus dem Briefkasten oder auf anderem Weg, ist kein neues Problem: Tobias Helfst vom Bremer Erwerbslosenverband (BEV) schätzt, dass dies jedem Dritten in seiner Sprechstunde passiert. „Das ist Alltag“, so Helfst. Weil nicht nur Datenklau droht, sondern auch die Möglichkeit, Fristen zu verpassen, rät er dazu, sich den Eingang jedes einzelnen Briefes quittieren zu lassen. Im Jobcenter Mitte gibt es dafür während der Öffnungszeiten eine eigene Poststelle. An dem Mittwoch, an dem Schmidt im Wartesaal steht, hatte die geschlossen.
In Bremen-Nord, so berichtet Helfst, würden die Jobcenter-MitarbeiterInnen einen Eingangsstempel generell verweigern. Verschwindet ein Antrag ohne Beleg, so sind die angehenden Hartz-IV-Empfänger auf die Kulanz der Sachbearbeiter angewiesen. Andernfalls gibt es erst Geld ab dem Tag eines neu gestellten Antrags. Auch andere fehlende Schriftstücke können Folgen haben. „Bei Verletzung der Mitwirkungspflicht drohen Sanktionen“, so Helfst.
Bundesweit verschwinden Unterlagen in Jobcentern
Laut dem Sozialwissenschaftler Harald Thomé vom Wuppertaler Selbsthilfeverein Tacheles sind verloren gegangene Unterlagen bei Jobcentern bundesweit ein Problem. Immer wieder gebe es darüber Beschwerden von Wohlfahrtsverbänden. Auch er schätzt die Verlustrate auf 30 Prozent. „Warum das passiert, ist mir unbegreiflich.“ Einen Grund vermutet er in der „katastrophalen Unterbesetzung“.
Und das Bremer Jobcenter? Dort kennt man Schmidts Geschichte. „Bei diesem bedauerlichen Vorfall handelt es sich um einen Einzelfall“, erklärt Jobcenter-Pressesprecherin Kristina Bumb. „Offenbar haben hier Unbefugte Post aus einem Briefkasten innerhalb unseres Dienstgebäudes entnommen.“ Es gebe einen eigenen Datenschutzbeauftragten im Hause und datenschutzrechtliche Bedenken von Jobcenter-KundInnen würden sehr ernst genommen. Auf Grund des Vorfalls seien nun neue Briefkästen beschafft worden, ausgestattet mit „speziellem Zugriffsschutz“. Am Montag waren sie im Jobcenter Mitte noch nicht angebracht.
* Name geändert
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?