: Das wohltemperierte Portrait
■ Neu im Kino: „32 Variationen über Glenn Gould“
Glenn Goulds Einspielung der 32 Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach aus dem Jahre 1955 gilt auch heute noch als die ideale Interpretation des Werkes. Der kanadische Regisseur Francois Girard hat sein Portrait des Künstlers genauso strukturiert wie Bachs Klavierwerk. In „32 Short Films about Glenn Gould“ (so der Originaltitel) versucht er aus verschiedenen Blickwinkeln das gleiche Thema in überraschenden Facetten und Tiefen auszuleuchten.
So kriecht einmal die Kamera förmlich in Goulds Lieblingsflügel mit der berühmt gewordenen Seriennummer CD 318; die mathematischen Verschachtelungen einer von Gould gespielten Bachfuge werden in einem Zeichentrickfilm sichtbar gemacht und Freunde und Kollegen erzählen in ganz konventionell gefilmten Interviewsequenzen über ihre Erfahrungen mit Gould (darunter interessanterweise mit Menuhin und Monsaingeon zwei Violinisten aber kein Pianist).
Der Schauspieler Colm Feore verkörpert in mehreren Szenen den Pianisten. Etwa wie er versunken ein Playback seiner eigenen Musik dirigiert, in einem Truckstop die Gespräche der Fernfahrer belauscht und sie in seinen Ohren zu einer Sinfonie umformt, oder wir sehen ihn einfach bei seinen vielen nächtlichen Autofahrten und Telefongesprächen. Aber er berührt nicht einmal die Tasten eines Pianos, denn Girard nähert sich sehr vorsichtig und klug seinem Grundmotiv. Deshalb vermeidet er die Fallen, in die man gerade bei einem Portrait Glenn Goulds nur zu leicht tappen könnte.
So bastelt er nicht mit am Geniekult um den Künstler (in der Tonspur sind viele wunderbare Aufnahmen Goulds zu hören, ohne daß zu sehr Aufhebens davon gemacht wird), und er präsentiert die vielen gelinde gesagt merkwürdigen Eigenheiten von Gould auch nicht in einer unterhaltsam sensationellen Freakshow.
Gould war mit seinen Ticks, Hypochondrien und Ängsten ein Howard Hughes der klassischen Musik (so seine eigene Einschätzung), aber Girard zeigt ihn uns so, daß ein Satz aus einem Interview wie eine Beschreibung des ganzen Films klingt: „Sein exzentrisches Wesen verschwand sehr schnell. Stattdessen erhielt man einen guten Eindruck von dem wirklichen Menschen – einer Person, die überhaupt kein Interesse daran hatte, zu schockieren, die nur daran interessiert war, sich selber Ausdruck zu geben.“ Wilfried Hippen
Original mit Untertiteln, läuft im Cinema, tägl. 19 Uhr
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