Das war auch: Gemeinde-Chef hat die Faxen dicke
Eine Flucht nach vorne“ nennt Arnd Focke seinen Rückzug aus der niedersächsischen Kommunalpolitik. In der vergangenen Woche war der Rücktritt des Bürgermeisters der Gemeinde Estorf und stellvertretenden Bürgermeisters der Samtgemeinde Mittelweser bekannt geworden. Den Anlass verschwieg der SPD-Politiker nicht: „Ich nehme angesichts massivster persönlicher rechter Anfeindungen, Bedrohungen und Diffamierungen meinen Hut, um mich und mein privates Umfeld zu schützen.“
Auf Facebook hat Focke betont, dass die Anfeindungen wegen einer vom Rat beschlossenen Erhöhung der Grundsteuer zugenommen hätten. „Abzockerarschloch verpiss Dich endlich aus Estorf“ sei schon „harter Tobak“. Aber „das muss man aushalten“, schrieb er. Nicht mehr aushalten wollte er jedoch, das wegen seiner klaren Haltung gegen die AfD „nunmehr Themen, wie ‚geh zu Deinen Ziegenfickern‘ oder ‚Dich sollte man mit der Antifa vergasen‘“ dazugekommen seien. In den zwei Wochen vor Neujahr hätten die Drohungen in nächtlichen Anrufen massiv zugenommen. Bisher unbekannte Täter haben auch sein Auto mit Hakenkreuzen beschmiert.
Der Fall Focke ist kein Einzelfall. Im Norden werden mittlerweile immer wieder Kommunalpolitiker*innen und Ehrenämter*innen angefeindet und bedroht. „Menschen, die heute für ein Ehrenamt kandidieren, müssen mit eventuellen Gefahren für sich und die Familie rechnen“, sagt Joachim Kebschull, ehemaliger Bürgermeister von Oersdorf in Schleswig-Holstein. Kebschull, der sich für Geflüchtete einsetzte, war schon 2016 mit einem Kantholz auf den Kopf geschlagen worden. Die Folge: ein Schädel-Hirn-Trauma. Einen Tag nach dem Angriff erhielt die Gemeindeverwaltung einen Drohbrief mit der Botschaft: „Aus Knüppel wird Hammer; aus Hammer wird Axt“.
Im Sommer dieses Jahres ergab eine Umfrage für das ARD-Politmagazin „Report München“ unter Bürgermeister*innen, dass in jeder zwölften Kommune Politiker*innen oder Beschäftigte der Verwaltung körperlich angegriffen wurden– ein Anstieg um 25 Prozent in zwei Jahren. Rund 40 Prozent der Kommunen haben bereits Hass-Mails erhalten.
Auf lokaler Ebene sind die Mandatsträger*innen nicht nur angreifbarer, da sie im Alltag präsenter sind. Bei einer Kandidatur müssen laut Kommunalwahlordnung nicht nur Name, Beruf und Geburtsdatum angegeben werden, sondern auch der Anschrift der Hauptwohnung.
Anne Kura, Landesvorsitzende der niedersächsischen Grünen, fordert, dass diese Angabepflicht bei Kommunalwahlen künftig wegfällt: „Es darf nicht sein, dass private Adressen veröffentlicht werden müssen und Menschen deshalb Angst um die Familie haben und sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen.“ Andreas Speit
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen