Das verschwundene Buch

■ Nach einem Jahr verschwindet ein Ost-Berlin-Buch des DDR-Autors Lutz Rathenow vom Markt - nur aus ökonomischen Gründen?

Der westdeutsche Markt macht möglich, was der Zensur made in DDR schwerfiel: das Einsickern eines mißliebigen Buches in's eigene Land zu verhindern. Von „Ostberlin - die andere Seite einer Stadt“ im Piper-Verlag soll die Rede sein. Im März 1987 erschien der Band. Der DDR-Schriftsteller Lutz Rathenow und der Fotograf Harald Hauswald brachten ihn rechtzeitig zur Jubelfeier heraus. Mehrere Ausstellungen ergänzten die Öffentlichkeitsarbeit. In beiden Teilen Berlins, in Hannover und Bonn waren sie sehr erfolgreich. In München und Göttingen blieb die Resonanz mäßig, aufgrund einer verunglückten Organisation. In den USA wandert eine Foto -Text-Kombination übrigens noch durch die Universitäten.

Ein Schnellschuß zur Berlinvermarktung war der Band nicht. Die beiden Verfasser erklären glaubhaft, sie hätten ohnehin für sich selbst einmal zusammenfassen wollen, warum sie vor zehn Jahren aus der Provinz in die Hauptstadt zogen. Und nicht nach West-Berlin, wie viele ihrer Freunde. Der Band stellt mit Harald Hauswald einen Fotografen jener neuen Generation vor, die dabei ist, für diese Kunstform sich internationale Geltung zu erknipsen. Gundula Schulze, Thomas Florschütz und Rudolf Schäfer sind andere Namen, die schon Aufmerksamkeit erregten. Die literarischen Qualitäten dieses Ost-Berlin-Bandes sind in zahlreichen Besprechungen ausreichend beleuchtet worden.

Im März teilte der Verlag interessierten Rezensenten mit, daß der Band vergriffen sei. Im April bekommen die Autoren den Bescheid, daß eine Nachauflage aus ökonomischen Gründen nicht möglich wäre. Nach einem Jahr ist damit ein Buch vom Markt, das aus Sicht von DDR-Stellen sowieso nie hätte erscheinen sollen. Ein normaler Vorgang? Ja, doch ein paar Fakten zu den Folgen des Buches verdienen Erwähnung: Einreiseverbot des Piper-Lektors Uwe Heldt in die DDR, Hausverbot für Hauswald bei einem Ost-Berliner Verlag (bestimmte ausländische Filmtypen kann man nur dort entwickeln lassen), im Ministerium für Kultur weist man Rathenow auf Zoll- und Devisengesetze hin (und erinnert an die Ausreisemöglichkeit), beiden werden alle Anträge auf Westreisen abgelehnt, ARD und ZDF bekommen keine Drehgenehmigungen für Beiträge zu diesem Buch. Das alles zu einer Zeit, in der Hauswalds Fotos häufiger in einer kulturpolitischen Wochenzeitung der DDR auftauchen, in der ein Verlag in Halle erstmals ernsthaft über einen Gedichtband Rathenows nachdenkt.

An diesem Beispiel zeigt sich die Zwiespältigkeit gegenwärtiger Kulturpolitik in der DDR. Ein Verlagsleiter verkündet auf einer Pressekonferenz der Leipziger Messe im März '88 die geplante Veröffentlichung Rathenowscher Gedichte. Und zur selben Zeit fordern Angehörige der Zollorgane Mitarbeiter des Piper-Verlages auf, den Berlin -Band vom Messestand zu entfernen. „Das Buch widerspricht den Zolleinfuhrbestimmungen“, begründen die Ordnungshüter ihre Maßnahme. Ernst Reinhard Piper, Juniorchef des Hauses, wird bei der Rückreise von der Messe genau kontrolliert. Man beschlagnahmt Manuskripte des DDR-Schriftstellers Thomas Günther. Rechneten die Beamten mit Werken eines anderen Autors? So wie Monika Marons Roman „Flugasche“ sich zum Lackmuspapier für Zensurprinzipien entwickelte, zu Recht Jahr für Jahr von westdeutschen Journalisten neu auf seine DDR-Veröffentlichungsfähigkeit hin überprüft, so entwickelte sich auch „Ostberlin - die andere Seite einer Stadt“ zu einem prinzipiellen Test.

Vielleicht auch für Erpreßbarkeit westdeutscher Verlage. Direkter Druck von seiten der DDR ist nicht zu beweisen. Aber will Piper nicht auch Lizenzen vom Aufbau-Verlag? Spielt da nicht mindestens der Austausch von Meinungen eine atmosphärische Rolle? Wer will schon immer wieder Ärger wegen eines Buches, das nicht mal ein Bestseller ist? Beileibe kein spezielles Piper-Problem. Luchterhand ist branchenbekannt als Rücksichtnehmer. Aber auch ein renommierter Kunstverlag erklärte kürzlich einem Autor, er gäbe gern dessen Buch heraus, wenn er einen DDR-Verlag als Partner fände. Man wolle zur Zeit nur offizielle Wege gehen. Und zur Leipziger Buchmesse bringt Rowohlt eben einen Jürgen Fuchs gar nicht erst mit. Die Frage lautet einfach, wo beginnen die vielen kleinen, im Einzelfall oft verständlichen Rücksichtnahmen zur programmeinschränkenden Vorsicht zu werden?

Rathenow und Hauswald wollen sich zu solchen Mutmaßungen nicht äußern. Der Verlag weist politische Unterstellungen zurück. Rein ökonomische Gründe ließen die Nachauflage als nicht kalkulierbar erscheinen. Außerdem veröffentliche man in der Serie Piper im Januar 1989 Lutz Rathenows Prosaband „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ als korrigierte Neuausgabe.

Während andere Berlinbücher auf den Ramschtischen landen, gerät dieses ein Jahr nach seinem Erscheinen zur Rarität. Mittlerweile hat der Verlag definitiv alle Rechte zurückgegeben. Es wird also auch keine Taschenbuchausgabe geben.

Carlo Kleinheim

Harald Hauswald/Lutz Rathenow: „Ostberlin - die andere Seite einer Stadt in Texten und Bildern“, Piper-Verlag, 39,80 DM