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Das studentische Vorbild zeigt Wirkung

■ Nach den Studenten wollen nun auch die französischen Eisenbahner den Sieg / Aus Paris Georg Blume

Die Konfusion in Paris ist nahezu komplett. Während die offiziellen Auguren einerseits vom Abbröckeln der Streikfront bei den Eisenbahnern reden, verkündet Regierungschef Chirac, notfalls würde er es auch auf eine Regierungskrise mit anschließenden Neuwahlen ankommen lassen, statt erneut klein beizugeben. Da der Streik überwiegend von Komitees, die nicht der Gewerkschaft angehören, koordiniert wird, ist die Situation für die beiden klassischen Kontrahenten, also Gewerkschaftsfunktionäre und Regieung, kaum kalkulierbar. Dabei steht die französische Rechtsregierung vor ihrer entscheidenden Nagelprobe: muß sie auch diesmal nachgeben, kann sie ihr Wirtschaftsprogramm, das Kernstück ihre Regierungspolitik, abschreiben.

„Wenn die Franzosen für etwas kämpfen, dann kämpfen sie auch und wollen den Sieg in einigen Tagen.“ Anders weiß sich der zurückhaltende Bahnschalterangestellte Richard Faujus vom Pariser Lyon–Bahnhof die Situation nicht mehr zu erklären. Wer hätte das gedacht? Gegen die Bahndirektion und die Regierung, gegen einen Teil der eigenen Gewerkschaften, gegen den Unmut der Weihnachtsurlauber, gegen das Krisenbewußtsein allerorts - die französischen Eisenbahner streiken immer noch und ohne Unterlaß. Heute ist ihr neunzehnter Tag. Es ist ihr längster Streik seit 1968 und kein Ende in Sicht. „Die totale Konfusion scheint in dem Konflikt um die SNCF (die französische Eisenbahn, G.B.) zu herrschen, in einem Klima, das sich mehr und mehr anspannt“, konstatierte am gestrigen Tag die angesehene Le Monde, der es offensichtlich an Erklärungen fehlt. Dagegen bleibt der Gleisarbeiter Franois vom Gare de Lyon nüchtern: „Heute wissen wir, daß es sehr, sehr hart ist, etwas zu erreichen. Also müssen wir auch sehr lange widerstehen.“ Mit fünfzig Kollegen blockiert er am Samstag nachmittag die Abfahrt einer der wenigen von der Bahndirektion organisierten TGV–Schnellzüge, die an diesem Tag den fast menschenleeren Bahnhof verlassen. Viele Fahrgäste schauen noch interessiert zu, wie die Polizei ohne große Mühen die Gleise räumen läßt, um erst dann in den Zug zu steigen. Ärger gibt es kaum. Lektion gelernt „Radio und Fernsehen haben uns ja vorgewarnt“, erzählt ein Opa, der seinen Enkel vom Sonderbus der SNCF statt vom Zug am Bahnhof abholt. Und auch das Verkehrschaos im Land ist an diesem Wochenende nicht viel schlimmer als ohnehin üblich. Wen immer man auch fragt, der Vergleich des Eisenbahnerstreiks mit der erfolgreichen Studenrevolte vom letzten Jahr ist das erste, was jedem einfällt. „Das letzte Mal haben wir am Trauertag um den von der Polizei ermordeten Studenten gestreikt“, sagt ein Lokführer. „Die Studenten haben uns eine große Lektion erteilt. Sie haben gezeigt, wie man gewinnt.“ So wenig man die Studentenrevolte vorraussah, so wenig rechnete man mit dem Streik. Eine Handvoll Schalterangestellte der Reservation im Pariser Nordbahnhof gingen am 12. Dezember in den Streik. Ihnen sollte eine 100–DM–Computerzulage gestrichen werden. Das war das Signal. Kurz darauf schlossen sich die Lokführer des Nordbahnhofs dem Streik an. Am 20. und 21. Dezember schließlich überspülte der Streik wie eine Flutwelle das ganze Land. Jetzt erst merkten die Gewerkschaften, wo der Zug abfährt. Nachdem die beiden führenden Eisenbahnergewerkschaften, die kommunistische CGT (47% der Stimmen bei den Betriebsratswahlen) und die sozialistisch orientierte CFDT (26 Streik aufgrund seiner möglichen Unpopularität in der Weihnachtszeit zunächst offen bekämpften, hatten sie nun Angst, den An schluß zu verlieren. Schon hatte man an der Basis begonnen, über andere Formen der eigenen Organisation nachzudenken. „Auf den Vollversammlungen wurde der Streik jeden Tag neu in Frage gestellt“, sagt Richard Faujus. „Nur so konnte die Bewegung durchhalten.“ Für Richard Faujus indes liegen die Koordinationen fern. „Die Bewegung machen wir. In der Vollversammlung stimmen wir über den Streik ab: ja oder nein. Aber zum Verhandeln sind die Gewerkschaften gut.“ Allein die CGT hat sich bisher mit diesem Prinzip einverstanden erklärt und versprochen, Verhandlungszusagen nur nach den Abstimmungen in den Vollversammlungen zu geben. Derweil aber sind Verhandlungen nicht angesagt. In der Silvesternacht hatte die SNCF–Direktion auf Regierungsgeheiß die umstrittene neue Lohnskala zurückgezogen, die Beförderungen vor allem nach Leistung und nicht mehr nach Alter vorsah und als Streikauslöser wirkte. In der Zwischenzeit aber hatten sich die Streikforderungen konkretisiert und radikalisiert. Fast einstimmig stimmten am Freitag die Vollversammlungen für eine Fortsetzung des Streiks. Bleiben Lohnforderungen weiterhin im Hintergrund, so geht es den Streikenden nun vor allem um allgemeine Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen, die meist auf Arbeitszeitverkürzungen hinauslaufen. „Für mich zählt die Verbesserung meines alltäglichen Lebens“, so der Schalterangestellte Didier, „sechs Tage hintereinander um halb vier aufstehen, dann einen Tag frei und dann noch einmal fünf Tage um halb vier raus, das ist kein Leben.“ Wirtschaftsprogramm gefährdet Für den rechten Regierungschef Jacques Chirac ist das Leben in diesen Tagen auch nicht leichter. Zum vierten Mal in dieser Woche rief er am Samstag die zuständigen Minister zusammen und ließ verkünden, daß man sich auf einen „langen und harten“ Streik vorbereite. Für Jacques Chirac gibt es in dem Arbeitskonflikt einen einzigen kritischen Punkt: die Lohnpolitik. Sein Wirtschaftsrahmenplan für 1987 sieht eine Erhöhung der Lohnmasse im öffentlichen Dienst um 3 Premierminister zurücktreten, als von dieser Zahl abweichen, meint bereits der links–liberale Nouvel Observateur. Mit einer spürbaren Erhöhung der Lohnmasse, sei es über Arbeitszeitverkürzungen oder Lohnanstieg, so glaubt die Regierung, wäre ihr gesamtes Wirtschaftsprogramm in Frage gestellt, verliere die Chirac–Mannschaft ihr internationales Ansehen, stiege die Inflation von jetzt 2–3 auf 5–6 befürchtet man eine neue Abwertung des Francs gegenüber der Deutschen Mark, glaubt man zumindest angesichts der niedrigen bundesdeutschen Inflation in Lohnfragen auf französischer Seite keinen Spielraum zu haben. All das zählt doppelt, seitdem die Regierung nach der Studentenrevolte eine „Reformpause“ verkündete und zur Wahrung ihres Ansehens ganz auf die bisher unumstrittene rigorose Sparpolitik von Wirtschafts– und Finanzminister Balladur gesetzt hatte. Sparte die Regierung bisher auch mit Stellungnahmen zum Streik, so bläst sie seit Freitag zum politischen Gegenangriff. „Die Kritik der Arbeitsbedingungen ist zu einer Frontalattacke gegen die Wirtschafts– und Sozialpolitik der Regierung geworden“, erklärte Ver kehrsminister Douffiagues am Samstag. Zu Hilfe kommt der Regierung bei ihren Bemühungen, die Streikbewegung zu politisieren, die CGT, die immer stärker versucht, sich an die Spitze des Streiks zu stellen, aber auch Franois Mitterrand, der in linker Vaterallüre einige Streikende empfing und sich so unausgesprochen mit ihnen solidarisierte. In alter 68er Manier wird die CGT in den nächsten Tagen versuchen, den Streik, den sie bisher nicht kontrolliert, auf ihre Hochburgen in den staatlichen Elektrizitäts– und Gaswerken (EDF/ GDF) auszuweiten, um ihn damit doch in den Griff zu bekommen. Richard Faujus macht sich Sorgen: „Die werden dann nur auf höhere Löhne drängen“, aber fügt gleich hinzu: „Wir sind dennoch keine Gewerkschaftsbewegung. Wir gehorchen keinen gewerkschaftlichen Parolen und entscheiden selbst.“ „Die Hoffnung, die uns die Studenten gaben, werden wir nicht verlieren“, sagt ein Gleisarbeiter.

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