: Das skandalöse Vergnügen
Gewalt im Kino V: Ich durfte nicht mal „Bonanza“ gucken. Heute muß ich wieder und wieder Bobby Perus Kopf fliegen sehen! Warum es die Moral braucht, um jenseits der Moral zu sein ■ Von Andrea Kern
Wenige Minuten vor dem Ende von „The Searchers“ hat John Ford ein für das gewöhnliche Zuschauerauge kaum wahrnehmbares, aber um so aufschlußreicheres Bild in seinem Western versteckt: Als John Wayne mit einer Armee Freiwilliger durch das Lager der Komantschen peitscht und im Eifer der Rache sämtliche Zelte durchsiebt in der Hoffnung, auf diese Weise das von den Komantschen entführte Mädchen aus deren Gewalt zu befreien, gerät für Bruchteile einer Sekunde ein Indianer in den Blick, der, kaum einen Meter von dem Trupp entfernt, sich über einen auf einer Feuerstelle hängenden Kochkessel beugt, während er in aller Seelenruhe das Spektakel aus vorbeijagenden Pferden und wild um sich schießenden Cowboys gleichsam aus der ersten Reihe verfolgt. Nur im Standbild ist diese eigentümliche Figur, die inmitten dieses erbarmungslosen Wütens weder Furcht noch Mitleid hat, deutlich zu erkennen. Der schnelle Kameraschwenk verhindert geschickt, daß unser Blick über sie stolpert. In die narrative Dramaturgie dieser Sequenz läßt sich der Indianer unmöglich auflösen. Wenn man ihn zum ersten Mal erblickt, wirkt er zum Lachen komisch.
Wir lachen freilich nur über uns selbst. Denn es ist der Blick des Zuschauers, den Ford in der Figur des Indianers heimlich ins Bild bringt, der, statt um seine Familie zu bangen, sein Vergnügen an diesem gewaltsamen Auftritt hat. Im Kleingedruckten des Films lesen wir, daß Filmzuschauer Leute sind, die selbst dann ihre Freude haben, wenn sie im Film ein grausiges Geschehen vor sich sehen.
Eine solche Schaulust war mir lange Zeit verwehrt. Noch heute halten es sich meine Eltern zugute, daß sie mir während meiner Kindheit Gewaltfilme jeder Art strikt untersagten. Auf die Frage, warum ich nicht einmal „Bonanza“ sehen dürfe, folgte stets dieselbe, für mich nachgerade tautologisch knappe Auskunft meiner Mutter: „Weil da geschossen wird.“ Ich solle mir „gute“ Filme anschauen, und das hieß: Filme ohne Gewalt.
Es war nun nicht so, daß dieses frühkindliche Verbot die Sache für mich nur um so verlockender machte. Im Gegenteil: Exzessiver Schußwaffengebrauch im Film schien mir lange Zeit nur ein Mittel, das Massenpublikum auf eine ziemlich simple Tour an die Kinokassen zu locken. Entweder, indem man ihre Affekte auf Hochtouren bringt, oder aber, wie es jüngst Peter Sloterdijk behauptet hat, indem man jenen „glücklichen Sadismus“ wieder zum Leben erweckt, den wir einmal hatten, als wir noch keine zivilisierten Wesen waren. Das eigentümliche Vergnügen, das wir verspüren, wenn Arnold Schwarzenegger sich auf einer Rolltreppe treffsicher den Weg freimacht, indem er das gesamte Personal der Szene niedermäht, schien anthropologisch erklärbar: als die identifikatorisch erlebte Wiederholung jenes frühgeschichtlichen Hochgefühls eines Subjekts, das „im Triumph über das getroffene und vernichtete Objekt zu sich kommt“.
Im wirklichen Leben mitleidsvoll
Unbehagen, das ich irgendwann an Erklärungen dieser Art empfand, bestand weniger darin, daß sie die Lust an filmischer Gewalt nur mehr zu einer Sache des schlechten Gewissens macht. Doch etwas muß falsch sein daran, wenn es für die Erklärung überhaupt keine Rolle spielt, ob sich die Lust auf einen Film oder aber auf das wirkliche Leben bezieht. Denn die Frage ist doch gerade, weshalb wir im Film ein Vergnügen an Szenen empfinden, auf die wir im wirklichen Leben höchst mitleidsvoll und erschreckt reagieren. Unsere Affekte und unser Sadismus hingegen funktionieren im Leben so gut wie im Kino.
Das zeitgenössische Kino, ich meine das Kino von Lynch, Stone, Tarantino und anderen, gibt darauf eine weitaus bessere Antwort, indem es die Frage weiter zuspitzt. Ich erinnere mich noch gut, wie man mich damals, als „Wild at Heart“ von David Lynch in die Kinos kam, in den Film nachgerade zwingen mußte. Ein Großteil der französischen Presse – ich lebte zu jener Zeit in Paris – hatte den Film soeben als gewaltverherrlichend zerrissen. Goldene Palme in Cannes hin oder her: Ich wollte keine herumfliegenden Hirne sehen.
Aus Skepsis und Widerstand ist heute eine Leidenschaft geworden. Szenen wie die, in der sich Bobby Peru nach dem mißlungenen Banküberfall den Kopf abschießt, der daraufhin in minimaler Zeitlupe gegen eine Wand klatscht und dann mit einem dumpfen Schlag auf den Boden prallt, während ein kleiner Hund den Arm eines Bankangestellten, der ihn schon vermißt hat, davonträgt, kann ich mir nicht oft genug anschauen. Meine Lieblingsszene in „Reservoir Dogs“ von Quentin Tarantino ist die, in der sich Mr. Blonde, ebenfalls nach einem mißlungenen Banküberfall, im Radio einen Schlager aus den Siebzigern einstellt, in extrem gebremsten Bewegungen die Hüften zu schwingen beginnt und sodann, fast noch im Auslaufen einer tänzerischen Bewegung, das Messer am Ohr des auf dem Stuhl gefesselten Polizisten ansetzt. Auf der Tonspur hören wir in extremer Verstärkung das Geräusch eines Knorpels, der gerade zerschnitten wird, während die Kamera nur mehr den leeren Blick auf die Ecke der Lagerhalle freigibt.
Lynch oder Stone geht es um das Wie
Was die Gewaltszenen dieser Regisseure eint, ist, daß ihre Darstellung der Gewalt stets gebrochen ist durch ein auffälliges Sichtbarmachen ihrer filmtechnischen Inszenierung. Es geht ihnen nicht vorrangig um das, was wir sehen, sondern daß und wie wir es sehen. In der Eröffnungssequenz von „Natural Born Killers“ von Oliver Stone, in der Mickey und Mallory in nur wenigen Minuten die Autobahnraststätte in eine Leichenhalle verwandeln, bewegen sich die eingesetzten filmischen Mittel mit den Formen der Gewalt, die sie darstellen, Kopf an Kopf. Permanent wird von Schwarzweiß auf Farbfilm geschaltet, Einstellungen werden immer wieder kurz eingefroren, Bilder um 90 Grad gedreht, und in Zeitlupe sehen wir, wie sich ein Messer zielgenau den Weg auf einen breiten Menschenrücken bahnt. Stone treibt den Kurzschluß von Film und Gewalt schließlich so weit, daß er die Gewalt Mickeys buchstäblich in die Gewalt der Kamera übergehen läßt: Als Mickey mit seiner Pistole auf eine nur wenige Meter vor ihm stehende Frau zielt, sehen wir, wie die Pistole langsam und völlig ruhig immer näher an das Gesicht der Frau herankommt und schließlich in ihren vor Angst geöffneten Mund eintaucht. Dabei ist es nicht etwa Mickey, der sich hier mit ausgestrecktem Arm auf die Frau zubewegt, sondern die Bewegung auf die Frau hin ist eine Fahrt der Kamera, an deren unterem Ende man die Pistole befestigt hat. Die Mittel der Gewalt, die der Film darstellt, sind zugleich seine eigenen Mittel. So fährt nicht nur die Pistole, sondern auch unser Blick in den Mund der Frau hinein. Das Blut, das in der nächsten Einstellung an die Wand spritzt, ist die Folge eines Schusses, den niemand abgegeben hat.
Das Vergnügen, das solche Szenen erwecken, ist ein Vergnügen, das durch das Entsetzen gegangen ist. Schon an dieser kleinen Sequenz läßt sich ablesen, wie es entsteht: aus dem Überkreuzen zweier sich widerstreitender Blicke auf den Film. Denn unser zunächst moralisch entsetzter Blick auf die Gewalt, die der Frau angetan wird, stößt hier plötzlich auf einen zweiten Blick, der die Gewalt nur mehr aus der Distanz betrachtet: als Inszenierungsleistung einer Kamera, die die Vernichtung eines Körpers als das irreale Produkt ihrer filmästhetischen Mittel ausstellt. In den selbstreflexiven Momenten dieser Filme provozieren sie uns zur Einnahme einer Perspektive, in der wir die Gewalt gar nicht mehr moralisch als wirkliches Geschehen betrachten, sondern nur mehr ästhetisch, als reines Spiel.
Das Kino der Neunziger gefällt mir deswegen so, weil es beide Blicke radikalisiert und so die Kluft zwischen ihnen auf die Spitze treibt: Es potenziert das Maß der Gewalt bis aufs äußerste und vervielfältigt zugleich die Strategien ihrer Ästhetisierung. Die Lust, die wir an ihnen empfinden können, braucht immer beide Blicke, den beteiligten und den distanzierten. Denn nur für den, der die dargestellte Gewalt auch moralisch betrachtet, kann es überhaupt ein Vergnügen sein, sich von dieser moralischen Perspektive zu befreien. Das Vergnügen, mit dem diese Filme rechnen, ist vielleicht deswegen so skandalös, weil es die Moral braucht, um jenseits der Moral zu sein.
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