: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“
Der zukünftige Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin heißt Richard Cragun. Er hat viel vor: das „Ballett des 21. Jahrhunderts“ präsentieren, einen Förderverein gründen. Und Tänzer finden, die so vielseitig und flexibel sind wie er – „nur besser“. Bei Klassikern wie „Romeo und Julia“ muß im Parkett schon mal eine Träne kullern
Mit Beginn der Spielzeit 1996/97 wird die Deutsche Oper Berlin einen neuen Ballettdirektor bekommen: Richard Cragun, seit 34 Jahren Solist beim Stuttgarter Ballett. Er ist nicht der erste, der von dort ausschwärmt. Die schwäbische Metropole ähnelt einer Brutstätte für Choreographen und Ballettdirektoren: John Neumeier, Jiri Kylian, William Forsythe, Uwe Scholz sind daraus hervorgegangen, um nur einige zu nennen. Sie leiten eigene Kompagnien, teilweise seit über 20 Jahren, die meisten sind profilierte Choreographen. Cragun verzichtet auf diese schöpferische Arbeit und will sich ganz auf den Aufbau eines Ensembles an der Deutschen Oper konzentrieren. Unsere Mitarbeiterin war die erste, mit der er über seine Pläne sprach.
taz: Warum werden Sie jetzt, nach Beendigung Ihrer aktiven Laufbahn als Tänzer, Ballettdirektor? Sie hätten auch Ballettmeister werden können.
Richard Cragun: Erst mal muß ich sagen, daß ich nie gedacht habe, daß ich so lange tanzen würde. Als ich damit anfing, hieß es, mit 35 Jahren ist Schluß. Als ich 35 war, lag die Grenze bei mindestens 40 Jahren. Und dann kamen Angebote von Choreographen, die genau mit Tänzern in diesem Alter arbeiten wollten – John Neumeier in „Endstation Sehnsucht“, die Carabosse in „Dornröschen“ von Marcia Haydée und viele andere. Das sind Rollen, die man in jedem Alter tanzen kann, aber man braucht dafür eine gewisse Reife. Das hat meine Karriere erheblich verlängert.
Und doch fühlten Sie sich nicht reif genug für einen Posten als Ballettmeister?
Als Ballettmeister arbeite ich schon lange. Ich bringe seit Jahren anderen Tänzern meine Rollen bei oder arbeite sie in Rollen ein. Das ist nicht üblich. Normalerweise machen Tänzer erst mal Karriere und fangen danach an, ihr Wissen an die nächste Generation weiterzugeben. Ich habe also schon seit einiger Zeit einen Vorgeschmack bekommen, wie das ist, als „Vorgesetzter“ mit Tänzern zu arbeiten. Und ich schaue auch schon seit Jahren anderen über die Schulter, was Theaterpolitik und Gestaltung einer Kompagnie bedeuten. Mit dem Weggang von Marcia Haydée als Direktorin steht dem Stuttgarter Ballett eine große Veränderung bevor. Reid Anderson, der ab Sommer 1996 die Leitung übernehmen wird, hat ein ganz anderes, neues Konzept. Die Ära Cranko- Haydée geht damit unweigerlich zu Ende. Es war mir klar, daß nun auch meine Zeit in Stuttgart begrenzt sein würde. Nach diesem Abschied wollte ich aber nicht mehr nur Tänzer über die Bühne jagen, sondern auch etwas gestalten, einer Kompagnie ein eigenes Profil geben.
Wie soll dieses Profil denn aussehen?
Wenn man als Direktor einen Hauschoreographen hat, prägt er den Charakter, wie beispielweise Billy Forsythe beim Frankfurter Ballett. Man geht nicht zu ihnen, um einen klassischen „Schwanensee“, sondern um ihren Stil zu sehen. Ich habe nichts gegen einen Hauschoreographen, aber es gibt ihn an der Deutschen Oper im Moment nicht, und ich will auch keinen, noch nicht. Ich will erst mal Flexibilität gewinnen. Da werde ich natürlich von einigen kritisiert – aha, er macht genau dasselbe wie wir, er kauft Produktionen ein. Das muß ich aushalten. Ich will mich jetzt darauf konzentrieren, Stücke möglichst vieler verschiedener Choreographen zu zeigen, damit die Kompagnie vielseitig bleibt.
Auf was muß man sich am Haus also gefaßt machen?
Das jetzige Repertoire ist sehr unterschiedlich, aber doch ein wenig schwerfällig auf das Klassische konzentriert. Wir müssen schauen, was erhaltenswerte Tradition ist und was nicht. Warum sollten wir zum Beispiel „La Sylphide“ oder die vielen Balanchine-Arbeiten nicht behalten? Daran darf man nicht vorbeigehen, und außerdem schult es die Technik der TänzerInnen. Aber es darf nicht alles sein.
Was ist genau Ihr Ziel?
Mein Ziel ist, daß die Deutsche Oper Berlin das Ballett des 21. Jahrhunderts präsentiert. Das bedeutet: neue Choreographen. Leute, die teilweise noch gar nicht ans Licht gekommen sind, die möchte ich suchen und fördern. Ich will neue choreographische Schöpfungen zeigen – nicht immer im Großen Haus, sondern vor allem im Max-Beckmann-Saal. Das ist ein kleines Theater von 530 Plätzen. Das heißt aber nicht, daß es eine Probebühne sein wird, ich will es mit Volldampf bespielen lassen.
Und was wollen Sie in der Oper bieten?
Ich sehe das als eine Einheit. Wo man früher versucht hat, „Dornröschen“ auf die Bühne zu bringen, gibt es heute die Neoklassiker: Balanchines „Apollon musagète“, Kylians „Sinfonietta“ oder Neumeiers „Kameliendame“ und vieles andere. Mit Blick auf das 21. Jahrhundert gesehen, sind das die echten Klassiker. Ich möchte, davon ausgehend, eine Kontinuität aufbauen. Billy Forsythe, Jiri Kylian, John Neumeier oder Pina Bausch – auch andere – sollen regelmäßig einmal im Jahr mit der eigenen Kompagnie an die Deutsche Oper kommen.
Und gleichzeitig strebe ich an, daß diese Choreographen uns eines ihrer Stücke geben, das wir mit unserem Ensemble erarbeiten können oder – noch besser, aber da gibt's auch Zeit- und Geldprobleme – selbst ein Stück für uns kreieren. Dann hat man eine Verbindung: Man sieht im Repertoire der Deutschen Oper ein Stück von Jiri Kylian, und zwei Monate später kommt seine Kompagnie mit seinem neuesten Werk. Und gleichzeitig oder einige Monate später zeigt ein ganz junger Choreograph aus dieser Truppe eine eigene Produktion im Max-Beckmann-Saal. Das ist mein Programm, meine Dramaturgie, meine Vision.
Und wer soll das bezahlen?
Ich habe die Zusage, daß ich zwei Kompagnien pro Jahr einladen kann. Wir können auch einen Austausch anstreben, die kommen zu uns, und wir gastieren bei ihnen. Aber nicht gleichzeitig, ich will, daß meine TänzerInnen von diesem Gastspiel lernen, daß sie die Stücke sehen. Ich weiß, daß wir alle sparen müssen, und die Mittel, die ich jetzt für meinen Bereich zur Verfügung habe, weiß ich zu schätzen. Zusätzlich will ich einen Förderverein gründen. Mit diesem „Kind“ gehe ich noch schwanger, und ich weiß auch noch nicht genau, wie es aussehen und heißen wird. Jedenfalls soll es dazu dienen, mehr Geld für das Ballett lockerzumachen. Dann kann ich gegebenenfalls Mehrkosten aus dem Förderverein abdecken. Diese Gelder werden auch nur für das Ballett zur Verfügung stehen.
Wenn Sie verschiedene Choreographen holen und unterschiedliche Stücke zeigen wollen, brauchen Sie sehr flexible TänzerInnen. Haben Sie die?
Wenn ich dieses Konzept des „Ballett des 21. Jahrhunderts“ verfolge, muß ich mich fragen, welche TänzerInnen brauche ich dafür heutzutage? Es ist ein bißchen blöd, daß ich dabei immer wieder auf meine eigene Karriere verweisen muß. Ich habe lernen müssen, sehr flexibel zu sein, mal auf Knien über die Bühne zu rutschen und einen Tag später in der fünften Position einen Prinzen zu präsentieren.
Das gibt es heute nicht mehr?
Doch, ich glaube, daß es Tänzer gibt, die das können – es gibt ja auch mich. Und ich versuche, Leute zu finden, die so sind wie ich, nur besser. Ich will keine Fabrik für Leistungssport aufmachen, wo eine statt 32 jetzt 120 Fouetté-Drehungen auf Spitze macht, aber oben ist kein Gesicht. Ich will eine Tänzerin und einen Tänzer, die das Publikum bei „Onegin“ oder bei „Romeo und Julia“ zum Heulen bringen können, aber bereit sind, die Wünsche jedes Choreographen zu erfüllen, egal, wie verrückt sie sind.
Wo finden Sie diese TänzerInnen?
Da muß ich mich umschauen. Man unterschätzt immer, wie weit TänzerInnen heute bereit sind zu gehen. Ich werde einige Leute mitbringen nach Berlin, die haben diese Fähigkeiten. Und ich werde mir mein Ensemble in Berlin genau ansehen. Ich mache kein Vortanzen, niemand soll vor mir zittern. Aber ich schaue sie mir an beim Training, bei der Probe, in der Vorstellung. Jede und jeder soll die Chance haben, zu bleiben und mitzumachen. Ich werde meine Wünsche vortragen mit sehr viel Respekt und Anforderung und mit sehr viel Liebe. Mein Ziel muß klar sein. Und wer weiß, vielleicht ist es ja so, daß Frau XY bisher nur das und das gemacht hat, aber innerlich darauf brennt, etwas anderes zu machen oder sich gar nicht bewußt ist, daß sie es kann.
In welchem Verhältnis sehen Sie die Deutsche Oper zur Staatsoper unter den Linden, zur Komischen Oper oder zum Hebbel Theater?
Ich sehe mich nicht als Gegner, sondern als williger Mitarbeiter an dem Aufbau und der Weiterführung von Tanz in Berlin. Ich grenze mich ab vom Tanztheater – dabei bin ich selbst ein glühender Fan davon. Etwa Johann Kresniks Umsetzung der Malerei von Francis Bacon hat mich sehr fasziniert, das ist eine enorme Leistung. Aber ich muß das nicht an die Deutsche Oper oder in den Max-Beckmann- Saal holen. Ich muß eine Grenze ziehen und kann trotzdem versuchen zu ergründen, wo gehen diese beiden Welten – Tanztheater und traditionelles Ballett – zusammen? Wo überschneiden sie sich? Welche Möglichkeiten haben wir noch nicht ausgeschöpft? Daran will ich arbeiten.
Ist es für Sie nicht schmerzlich, Stuttgart zu verlassen?
Wissen Sie, man kann nichts und niemanden im Leben festhalten. Es gibt schon Momente, wo ich weine und alles nicht loslassen möchte. Natürlich tut das weh. Aber das letzte Hemd hat auch keine Taschen. Und wenn ich mir das vor Augen halte, ist der Schritt nach Berlin nicht nur schön, sondern auch nötig. Interview: Annette Bopp
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