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„Das ist kein Hausmeisterjob“

■ Seit vier Jahren werden in der „Oranienetage“ junge Leute in Krisensituationen nicht nur untergebracht, sondern auch betreut / Ohne Festfinanzierung durch den Senat droht dem Projekt in der Oranienstraße nun das endgültige Aus

Martin sieht nicht unbedingt aus wie einer, der Hilfe braucht. Mit Jeansjacke, Schlapphut und Bartflaum auf Sunnyboy und einem schnellen Mundwerk ausgestattet, hat er das Zeug zum Conferencier. „Wenn ich nicht soviele Sprüche drauf hätte, hätte ich schon öfter was auf die Fresse gekriegt.“ Jetzt ist er zum zweiten Mal in der „Oranienetage“ untergekommen, einer „Krisenübernachtungseinrichtung für Jugendliche und junge Erwachsene“, wie es offiziell heißt. Martins Krisensituation ist dieses Mal von absehbarer Dauer. In ein paar Tagen kann das Sozialamt wieder einen festen Wohnsitz in seiner Akte eintragen; dann zieht er mit seiner Freundin in eine Kreuzberger Wohnung. Damals, als er das erste Mal kam, sah die Perspektive weniger rosig aus: drogenabhängig und wohnungslos. Im Obdachlosenheim hätte er unterkommen können oder in einer der „Läusepensionen“, deren Besitzer zwölf Mark pro Mann und Bett beim Sozialamt abkassieren. Für Junkies wie Martin gibt es immerhin noch die Krisenübernachtung des Drogennotdienstes, „aber da mußt du dich erst mal nackt ausziehen und in der Dusche nach Drogen abfilzen lassen“. Dann dreimal lieber in die „Etage“, wo er sich, wenn schon nicht zu Hause, so doch als Gast fühlen kann. „Wäre scheiße, wenn die hier zumachen müßten“, sagt er und fingert nach einer Zigarette.

Zumachen müssen sie, es sei denn, der Senat verschafft der „Oranienetage“ eine finanzielle Grundlage, auf der sich leben und arbeiten läßt. Exakt 55,05 Mark pro Tagessatz zahlen die Sozialämter für jeden obdachlosen Jugendlichen in der Etage. Das entspricht dem, was Sozialämter gerade noch für Obdachlose auszugeben bereit sind. Die Unterbringung im Obdachlosenheim oder in einer der „Läusepensionen“ kommt billiger, doch selbst die sind mittlerweile mit Aus- und Übersiedlern belegt. Eine akzeptable Alternative sind sie für die MitarbeiterInnen der Etage ohnehin nicht. „Wer mit 20 Jahren da rein gerät, dessen Absturz ist vorprogrammiert.“ „Nur“ obdachlos ist keiner von den jungen Leuten, die für maximal sechs Monate in der „Etage“ unterkommen können. Sie sind von zu Hause oder aus der Therapie geflogen, aus der Klinik oder aus dem Knast entlassen. Einige kamen aus Westdeutschland mit der festen Erwartung, hier Wohnung und Job zu finden - und es fand sich weder das eine noch das andere.

Von den Tagessätzen müssen die Miete und zwei feste Stellen bezahlt werden. Der Rest ruht auf drei ABM-Stellen und viel ehrenamtlicher Arbeit. „Und die ist nicht unbegrenzt ausdehnbar“, sagt Viola, eine der Festangestellten und Mitbegründerin der Etage. Die ABM-Stellen laufen Ende Dezember aus, dann sind die MiterbeiterInnen mit ihrem Latein am Ende. Personal einsparen, habe die Sozialverwaltung vorgeschlagen - „aber das ist hier doch kein Hausmeisterjob“. Seit langem bemüht man sich deswegen um eine Festfinanzierung durch den Senat, doch außer viel verbalem Lob ist bisher nichts Konkretes herausgekommen.

Nicht nur die „Klientel“ der „Oranienetage“ ist für die Sozialbürokratie schwer einzuordnen, sondern auch das Projekt selbst. Man wäre viele Probleme los, würden man sich als reines Aids-, Drogen- oder Psychiatrieprojekt ausgeben. Dann müßte sich, wie sonst üblich, die „Klientel“ nach dem Projekt richten, und nicht umgekehrt. „Wir passen in keine Schublade“, sagt Viola, „deshalb ist das jetzt eine politische Entscheidung, die die Sozialsenatorin treffen muß.“ Am Freitag trifft man sich zum Gespräch mit Sozialsenatorin Ingrid Stahmer - guten Gewissens, denn die „Oranienetage“ hat die Bedingungen der Senatsverwaltung erfüllt. Eine Aufstockung von acht auf zehn Plätze hatte diese gefordert. Der Trägerverein konnte tatsächlich eine entsprechende Wohnung in Kreuzberg anmieten und zahlt zur Zeit doppelte Miete.

Einen Antrag auf Übernahme der Betriebskosten für die „neue Etage“ bis zum Jahresende lehnte die Senatsverwaltung für Soziales „mit freundlichen Grüßen“ ab; schließlich stehe die Entscheidung über die Art der Weiterfinanzierung des Projekts „bedauerlicherweise“ noch aus. Damit dem Verein die Wohnung erhalten bleibt, empfahl die Senatsverwaltung, die Wohnräume befristet weiterzuvermieten. Beigefügt war die Telefonnummer eines Mitarbeiters im Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - zuständig für die Unterbringung von Aus und Übersiedlern.

anb

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