: „Das ist britische Weisheit“
AUS LONDON ULRIKE WINKELMANN
In der Piccadilly Line herrscht das für London übliche Schulter-an-Schulter-Schweigen. Exakt 24 Stunden zuvor geschah auf dieser U-Bahn-Linie der – gemessen an der Zahl der Todesopfer – schlimmste der vier Terroranschläge, die London innerhalb einer einzigen Stunde heimsuchten. Gestern früh fuhr die Piccadilly Line schon wieder, jedoch nur bis Hyde Park Corner, also nicht ganz bis zur Stadtmitte. „Das Nahverkehrssystem ist noch nicht wieder ganz normal“, sagen die Lokalfernseh- und Radiosender im Ton munterster Normalität, was als zentrale Aussage über den Zustand der vom Terror erschütterten Stadt verstanden werden konnte: noch nicht ganz, aber grundsätzlich schon. Schwer vorstellbar, was Londoner so sehr aus der Fassung brächte, dass sie in der U-Bahn zu sprechen anfingen.
In der Piccadilly Line jedenfalls sind viele Zeitungsleser schon jenseits der blutigen Terrorberichte, im hinteren Teil der Blätter angelangt, wo die steigenden Kosten für Zahnbehandlungen verhandelt wurden. Eine junge Frau zückt Spiegel und Wimperntusche und beginnt das motorisch anspruchsvolle Schminkgeschäft im wackelnden und ratternden Zug. Nur eine Mutter, vermutlich mit Vorfahren aus Bangladesch, legt ihrer etwa acht Jahre alten Tochter beruhigend die Hand auf die Schulter; das Mädchen dreht sich immer wieder zu ihr um und tuschelt. Hat sie bloß Angst vorm U-Bahn-Fahren – oder hat die 700.000-köpfige muslimische Bevölkerung der Stadt vielleicht jetzt Angst vor zunehmender Islamophobie?
Im nördlich gelegenen Stadtteil Finsbury Park sammeln sich Kamerateams aus aller Welt vor den beiden großen Gebetshäusern: dem Muslim Welfare House (Muslimisches Wohlfahrtshaus) und der North London Central Mosque, die nach dem 11. September 2001 als islamistische Brutstätte bekannt wurde. Seit Januar hat diese Moschee, ein moderner Backsteinbau mit elegant in die Fassade integriertem Betonminarett und grünen Fensterrahmen, neue Betreiber. Sie haben ein Transparent aufgehängt, das einen „neuen Anfang“ für bessere Dienstleistungen und Beziehungen sowie ein besseres Image der „Community“ – was mehr bedeutet als bloß „Gemeinde“ – verspricht. Um ein Uhr beginnt das Freitagsgebet. „Wir stehen hier jeden Freitag“, erklären die Polizistin und ihr Kollege, die vor der Pforte Stellung bezogen haben, „aus allgemeinen Sicherheitsgründen.“
Fadi Itani ist Chef des Muslim Welfare House. Für dieses Wochenende hatte er ohnehin einen Tag der offenen Moschee namens Islamic’X’perience geplant. Er ist auf Öffentlichkeit eingestellt und verteilt die Broschüren seiner Institution, die Hilfe in Ausbildungs- und Geschäftsgründungsfragen verspricht, aber auch als Gemeindezentrum fungiert. Itani, groß, stämmig und noch recht jung, überwacht gerade, wie zwei junge Männer das „Muslims for Peace – gemeinsam verurteilen wir den Terrorismus“-Transparent aufhängen und durch cooles Grimassieren und wichtigtuerisches Leiterschwenken zu beeindrucken versuchen. Zum Freitagsgebet erwartet das Muslim Welfare House 2.000 Gläubige. „Die Leute gehen mal hier, mal drüben in der Moschee beten“, sagt Itani, „da gibt es keine Zuordnung.“
Der Gottesdienst ist immer auf Arabisch und Englisch, damit jeder etwas versteht; heute wird er sich vornehmlich mit den Attentaten befassen. „Es wird eine negative und eine positive Folge geben“, sagt Itani: „Die Islamophobie wird zunehmen; aber die Leute werden zugleich erkennen, dass sie mehr Kontakt aufnehmen, für mehr Verständnis sorgen müssen.“ Die Diskriminierung sei natürlich schwer zu erfassen. Doch werde berichtet, dass Muslime bei der Jobsuche benachteiligt würden. Aktuell, an diesem Vormittag, hat auch Itani den Eindruck, dass die „Community“ sich in Gleichmut und Alltag übt. „Das ist britische Weisheit“, sagt er.
„Wenn du dich sicher fühlst, dann gibst du Sicherheit“, erklärt Necmi Akcay, gebürtiger Türke und seit 20 Jahren in England. Ihm gehört einer der unendlich vielen Bekleidungsläden im Zentrum von Finsbury Park. Er bittet auf einen Schwatz ins Büro. Er habe überhaupt nicht einsehen können, dass er tags zuvor seine beiden Kinder, 11 und 14 Jahre alt, von der Schule abholen sollte, weil im Stadtzentrum Bomben explodiert waren. „Die Schuldirektorin rief alle Eltern an. Ja was glauben die denn – dass die Kinder nicht allein nach Hause finden?“ Er jedenfalls habe seinen Laden nicht verlassen. Seine Tochter habe zwar fast zwei Stunden statt der üblichen 15 Minuten nach Hause gebraucht, aber daran hätte sich nichts geändert, wenn er dabei gewesen wäre. Der Verkehr sei eben zusammengebrochen, und fast alle mussten weit laufen. Heute falle die Schule aus, das sei einzusehen – aber abholen? Also bitte!
Vermutlich werde es nun, nachdem der Terror auch London heimgesucht habe, einen „Backlash“ geben, vermutet Akcay: Die nach dem 11. September erreichte Verständigung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen werde vorübergehend wieder von naziähnlichen Gruppen beschädigt. „Aber die meisten Leute werden ihren Sinn für Logik benutzen und feststellen, dass der Islam eine friedliche Religion ist. Terroristen repräsentieren weder den Islam noch die übergroße Mehrheit der Muslime. Sie sind in der islamischen Gemeinschaft marginalisiert“ – und das sei ja auch längst bekannt. Seitdem mehr Kameras etwa an der North London Central Mosque installiert seien, fühle er sich noch sicherer. „Mir gefällt das. Was sollen sie sonst auch machen?“
Schräg gegenüber füllt sich das Aubergine Café gegen Mittag mit dem Mix von Menschen, der für London typisch ist – mit Ausnahme der teuren West-End-Viertel, wo nach wie vor nur weiße Besserverdienende wohnen. In Finsbury Park wie im gesamten East End, der traditionellen Immigrantenhochburg, leben Menschen von überall her, mit allen erdenklichen Hauttönen und Akzenten. Der anhaltende Wirtschaftsboom, geringe Arbeitslosigkeit und ein integrierendes Gesamtschulsystem erlauben den meisten von ihnen vergleichbare Lebenschancen. Die Grundstimmung ist multikulturell und gut.
Dies dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass London am Mittwoch als Austragungsort der Olympischen Spiele 2012 überzeugen konnte, was selbst ausgesprochene Nichtpatrioten erfreute. Andrew Panayi, Betreiber des Aubergine Café, glaubt nicht im geringsten, dass die Olympischen Spiele jetzt vom Terror bedroht sind. „Sie werden mehr Sicherheitsvorkehrungen treffen. Aber die Spiele können sie uns nicht nehmen.“ Er hält den Betrieb heute im Café und auf der Straße für „normal minus 30 Prozent“ – nicht weil die Leute aus Angst zu Hause blieben, sondern weil sie vielleicht mangels U-Bahn-Verkehrs nicht zur Arbeit kämen.
„Angst? Ich weiß nichts über anderer Leute Angst. Es wird mit dem Nahverkehr zu tun haben, dass es ruhiger ist“, sagt Panayi. Er benutzt eine ganz ähnliche Formulierung wie fast alle, die man fragt: „Oh, natürlich waren die Bomben gestern ein Schock – aber keine Überraschung. Wir haben damit gerechnet, nur haben wir das ab und zu vergessen.“