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Archiv-Artikel

„Das ist Verfassungsbruch“

Da Politiker immer wieder Staatsanwälte und Steuerfahnder anweisen, gewissen Fällen nicht allzu gründlich nachzugehen, hat der Rechtsstaat ein Demokratieproblem, sagt der Experte für Wirtschaftskriminalität Hans See

HANS SEE ist Gründer von Business Crime Control e. V. und Herausgeber der Vierteljahreszeitschrift für Theorie und Praxis der kriminellen Ökonomie BIG. Seit vielen Jahren befasst er sich mit den sozialen Schäden, die Wirtschaftsverbrechen, organisierte Kriminalität und Korruption verursachen, und beleuchtet die damit entstehenden Probleme für demokratische Staaten. Er ist zudem Lehrbeauftragter an der FH Frankfurt am Main.

taz: Herr See, in vielen großen Unternehmen sind heute kriminelle Wirtschaftspraktiken, Steuerbetrug, Bilanzfälschungen, Selbstbereicherung der Manager oder auch legalisierte Gewinnmaximierungsmethoden an der Tagesordnung. Protestieren Unternehmer so gegen den Staat?

Hans See: Mit dem angeblich zu teuren Sozialstaat versuchen Wirtschaftsstraftäter und ihre Verteidiger die Delikte zu rechtfertigen. Leider fallen viele auf diese Ausreden herein. Da lässt einer im Zusammenhang mit dem Steuerbetrug den Begriff Volkssport fallen, und schon haben die Hobbybetrüger, die bei ihrem Finanzamt ein paar Euro zu viel angegeben haben, ein schlechtes Gewissen und glauben, sie hätten kein Recht darauf, für diejenigen harte Strafen zu fordern, die als „Profis“ des Steuerbetrugs Millionen zur Seite schaffen. Auch andere Bereicherungsdelikte werden angeblich nur begangen, um im Wettbewerb bestehen zu können und Arbeitsplätze zu sichern.

Ist denn diese Argumentation so falsch?

Arbeitsplätze wurden in großem Maßstab wegrationalisiert, auch wenn die Unternehmen riesige Gewinne einstrichen. Es geht doch darum, ob der soziale Rechtsstaat noch in der Lage ist, die unternehmerische Selbstbereicherung so einzugrenzen, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht zerstört werden.

Muss deshalb das Bankgeheimnis geopfert werden? Muss man es nicht als Schutz des Bürgers vor Übergriffen des Staates betrachten?

Das Bankgeheimnis schützt nicht vor Kontrollen der Staatsanwaltschaften und Steuerfahnder. Es gilt nur gegenüber Dritten. Sonst könnte ja jeder Unternehmer bei seinem Konkurrenten nachsehen, wie es um dessen Liquidität bestellt ist. Staatliche Kontrollen müssen allerdings unbedingt auf gesetzlicher Grundlage stattfinden und richterlich genehmigt sein. Wenn aber die Staatsanwälte und Steuerfahnder von Politikern angewiesen werden, einem Fall nicht allzu gründlich nachzugehen, steht der Rechtsstaat vor einem selbst gemachten Demokratieproblem. Das ist Verfassungsbruch.

Ähnliche Kritik hört man vom Deutschen Richterbund.

Ja, die kritischen Stimmen häufen sich. Doch die Kritik an der Politik darf nicht ausblenden, dass Politiker oft wie Marionetten an den für die Öffentlichkeit unsichtbaren Fäden der Investoren hängen. Geltendes Recht wird immer schamloser gebrochen, weil viele Gerichte sich, wenn überhaupt, nur noch wagen, über Unternehmen, die betrogen haben, symbolische Strafen zu verhängen. Strukturell zeigt sich der Unternehmenseinfluss auch darin, dass die Zahl der Steuerfahnder zu gering ist und Staatsanwaltschaften weisungsgebunden und nicht so ausgestattet sind, wie es die Lage erfordert, und die Medien spielen oft mit.

Nur wenige Leute wie Boris Becker oder Otto Graf Lambsdorff wurden bislang an den Pranger gestellt. Jetzt aber zeigt der Fall Zumwinkel, der einige Klassen höher anzusiedeln ist, dass unser Rechtsstaat doch funktioniert. Wie kam es dazu?

Der öffentliche Druck wächst, und es scheint nötig, die Funktionstüchtigkeit unseres Rechtsstaats wieder einmal zu beweisen. Dazu kommt, dass die Schweiz und Liechtenstein dem Schengener Abkommen beitreten. Das heißt, dass weitere Grenzkontrollen durch Kontrollsysteme ersetzt werden müssen.

Hat sich der Staat, der die Daten gekauft hat, nicht als „Hehler“ erwiesen?

Hohe Steuern und der Kauf von privaten Bankdaten großer Steuerhinterzieher durch Staatsorgane werden als ein unerlaubter Übergriff auf das rechtmäßig erworbene Eigentum hingestellt. Die Bevölkerung sollte aber auf den Gedanken kommen, dass es nicht die als „Sozialschmarotzer“ beschimpften faulen Hartz-IV-Empfänger sind, die unseren Sozialstaat ruinieren, sondern Wirtschaftskriminelle unter den Eliten.

Transparency International hat Liechtenstein „Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ vorgeworfen und Konsequenzen gefordert. Trägt das zur Korruptionsbekämpfung bei?

Ich glaube nicht! Transparency war bereits viele Jahren über die Korruption ihres Mitglieds Siemens informiert, hat aber öffentlich keine Stellung bezogen, wie in anderen Fällen auch.

Welche Konsequenzen hätte es, wenn plötzlich alle ehrlich ihre Steuern zahlen würden?

Es wären mindestens 100 Milliarden Euro mehr in der Staatskasse, die aber wahrscheinlich sofort den Unternehmen in Form von Steuersenkungen und Subventionen zurückgegeben würden. Natürlich wäre das eine große Chance, diese Mehreinnahmen zur Förderung eines sozial gerechteren Gemeinwesens und damit auch für eine wirksame Friedenspolitik auszugeben.

INTERVIEW: ANTJE BULTMANN