„Das geht Schering am Arsch vorbei“

von FRANK KETTERER
und MARKUS VÖLKER

Frohe Botschaften werden bei der Schering AG traditionsgemäß mit Pressekonferenzen abgefeiert. Schließlich soll die ganze Welt Bescheid wissen, wie prächtig es dem Pharma-Unternehmen aus Berlin geht. Anfang November war es wieder so weit, und obwohl nur eine Zwischenbilanz für die ersten neun Monate des Jahres gezogen wurde, war es ein imposantes Zahlenwerk, das Dr. Hubertus Erlen, der Vorstandsvorsitzende, präsentieren durfte: der Konzerngewinn war in dem Zeitraum um 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 331 Millionen Mark gestiegen, der Umsatz um sieben Prozent auf 3,52 Milliarden Mark. Da ist es nur verständlich, dass Erlen der Presse stolz verkündete, dass sich „unser Wachstum – und damit unsere Erfolgsstory“ fortsetze und der Konzern getrost an seiner Einschätzung festhalten könne: „Im Gesamtjahr 2001 wird der Konzerngewinn um mehr als 19 Prozent steigen.“ Die Schering AG steht also vor einer glänzenden Zukunft.

Der Produzent: Jenapharm

Die Vergangenheit glänzt nicht ganz so, zumindest nicht bei allen Teilen des Pharma-Riesen, und ganz speziell nicht bei der Jenapharm GmbH. Vor sechs Jahren übernahm Schering die Mehrheit des ehemals Volkseigenen Betriebs (VEB) mit Sitz in Jena und Weimar, seither wird das Berliner Stammhaus, seit Oktober diesen Jahres 100-prozentige Mutter, immer wieder mit der unrühmlichen Geschichte seiner Zweigstelle im Osten konfrontiert. Es geht dabei um das Dopingsystem der Sportgroßmacht DDR, und um das Wissen, dass ein Großteil der „unterstützenden Mittel“, wie Dopingstoffe damals verharmlosend genannt wurden, von Jenapharm hergestellt wurden. Und es geht um die Sportler, die all das Doping, oft ohne ihr Wissen, von gewissenlosen Trainern und Ärzten verabreicht bekamen und als Dopingopfer heute noch unter den Folgen all der Pillen zu leiden haben.

Bei Schering wird man nicht gerne auf dieses Thema angesprochen, schon gar nicht, wenn es um eine finanzielle Entschädigung der Opfer geht. Vier Millionen Mark hat die Bundesregierung dafür im nächsten Jahr eingeplant, zudem hat endlich auch der Deutsche Sportbund (DSB) seine Unterstützung am neu gegründeten Doping-Opfer-Fonds zugesagt. „Es wird, wie auch bei anderen Wirtschaftsunternehmen, wohl auch bei uns angefragt werden“, befürchtet Schering-Pressesprecher Mathias Claus auf die Frage, ob sich der Berliner Pharma-Riese am Fonds beteiligen werde. Darüber wolle man sich „im nächsten Jahr Gedanken machen“. Schon jetzt legt Claus Wert auf die Feststellung, dass keine besondere Verpflichtung der Schering AG gegenüber den Dopingopfern besteht: „Es gibt keine Erkenntnisse, dass Jenapharm aktiv an der Dopingforschung beteiligt war.“

Daran allerdings hegt nicht nur Dagmar Freitag, Sportpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Zweifel. „Man weiß ja, wo Oral-Turinabol fabriziert wurde“, sagt sie. Seit Ende der Sechzigerjahre wurde das Testosteron-haltige Mittel – die berüchtigten blauen Pillen – von Jenapharm hergestellt und kam im Hochleistungssport zur Anwendung. „Die Frage der Mitverantwortung“, folgert Freitag, „stellt sich da doch ganz deutlich.“ Zumal gleich aus einer Reihe von Unterlagen ersichtlich wird, dass der Thüringer Pharmabetrieb die Aufgabe ernst nahm, die ihm im Rahmen des „Staatsplanthemas 14.25“ übertragen wurde.

Bereits 1977 erhielt Jenapharm Weisung von oben. In einem streng vertraulichen Schreiben wurde der Leitung des Arzneimittelherstellers das „Forschungsvorhaben Komplex 08“ vorgelegt. Zielvorgabe: „Die Wirksamkeit der trainingsmethodischen Grundkonzeption in Schwerpunktsportarten des Leistungssports zu erhöhen.“ Dokumentiert ist dies in einer Sonderausgabe der „Geschichtswerkstatt“ Jena, der Stasiakten zu Grunde liegen. Weiter heißt es: „Das Forschungsvorhaben ist von hoher Bedeutung für die Erfüllung der gesellschaftspolitischen Aufgabenstellung des DDR-Leistungssports.“

Dabei nahmen die Erfüllungsgehilfen keine Rücksicht auf Verluste, die unlautere Leistungsexplosion blieb für die Sportler nicht ohne Folgen: Mit Symptomen von Vermännlichung – Bartwuchs, Stimmvertiefung, Ausbleiben der Regelblutung – hatten die teils jugendlichen Athleten schon damals zu kämpfen; später, im Erwachsenenalter also, kamen dann nicht selten Leberschäden, die Geburt von missgebildeten Kindern sowie ein erhöhtes Krebsrisiko hinzu – alles Schäden, an denen die Dopingopfer heute leiden. Die Nebenwirkung der Hormone zeigte sich freilich auch bei Jenapharm-Angestellten, die an der Steroid-Fertigungslinie standen: Männer, denen Brüste wuchsen oder deren Potenz plötzlich schwand, wurden in andere Abteilungen versetzt und zum Schweigen verpflichtet.

Der Forscher: Professor Oettel

An zentraler Stelle forschte schon damals der Tiermediziner Prof. Dr. Michael Oettel, der noch heute unbehelligt bei Jenapharm als Forschungschef tätig ist. Oettel brachte es als der Hormonexperte der DDR bis zum Staatspreis (1987). Sein biochemisches Wissen stellte er sogar schon acht Jahre zuvor in den Dienst der Stasi, wie aus seiner handschriftlichen Verpflichtungserklärung hervorgeht. Als IM „Wolfgang Martinsohn“ berichtete Oettel von der Hormonfront; 1980 unter anderem darüber, „dass da [im Leistungssport; Anm. d. Red.] ganz differenziert nach dem Belastungsprinzip der einzelnen Sportarten Anabolika eingesetzt werden“. Oettel, der bei der Stasi als „krankhaft ehrgeiziger“ Karrierist galt, stellte sein Wissen, so ist den Akten zu entnehmen, auch bei der Entwicklung eines steroidhaltigen Nasensprays zur Verfügung. Während Oral-Turinabol bis 1994 ein offiziell zugelassenes Medikament war, traf das auf die Jenapharm-Entwicklung Mestanolon (STS 646) nicht zu. An Sportler wurde das Dopingmittel dennoch verabreicht.

„Aus meiner Sicht“, so der Potsdamer Sporthistoriker Giselher Spitzer in der ZDF-Fernsehsendung „Frontal 21“ vom 8. Mai dieses Jahres, „hat sich die Firma Jenapharm einerseits schuldig gemacht, weil sie wusste, dass Heilmittel wie Oral-Turinabol missbräuchlich verwendet worden sind, nämlich im Sport. Und sie hat sich andererseits besonders schuldig gemacht, weil sie Substanzen, die als Heilmittel nicht zugelassen waren, bis heute auch nicht zugelassen sind, in den Sport gegeben hat“. „Erstaunlich“ findet es Spitzer auch, „dass Professor Oettel heute immer noch in derselben Position ist und es sich im Grunde leisten kann, auf die Vorwürfe nicht einzugehen.“ Auch für die taz war der 62-Jährige nicht zu sprechen. Spitzer: „Er hat jede Verantwortung für Dopingpraktiken und Dopingforschung von sich gewiesen. Und das ist nach den Unterlagen falsch.“

Bei Schering sieht man das naturgemäß anders. „Wir haben an der Integrität von Prof. Oettel überhaupt nicht zu zweifeln“, sagt Mathias Claus. Zum Thema Stasi gibt sich der Pressesprecher noch verschlossener: „Sie glauben doch nicht, dass ich mit Ihnen über Personalinterna reden werde“, zumal Oettel, der derzeit an der Pille für den Mann arbeitet, sein Wissen immer Gewinn bringend für Schering eingesetzt hat.

Die Schuld? Keine Frage

Die Abwehrhaltung des Konzerns ist Jürgen Haschke nicht neu. „Die sitzen das aus“, weiß der Thüringer Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen aus eigener Erfahrung. Mehrfach hat er Aufsichtsrat und Vorstand von Schering angeschrieben und auf ihre Mitverantwortung hingewiesen. „Das geht denen doch am Arsch vorbei. Denen ist das Thema doch egal“, ist er sich sicher. Zumal es sich mittlerweile allein um eine moralische Verpflichtung handelt. Rechtlich ist Schering nicht zu belangen; ohnehin ist die Verjährungsfrist am 3. Oktober 2000 für in der DDR begangene Straftaten abgelaufen. „Da fließt keine müde Mark“, prognostiziert Haschke deshalb, „das wäre ja ein Schuldeingeständnis.“ Und davon ist Schering nun wirklich weit entfernt, wie Pressesprecher Claus mit einer einzigen Frage deutlich macht: „Solingen-Klingen ist auch an der Herstellung von Messern beteiligt. Sind die deshalb dafür verantwortlich, was außerhalb der Metzgerei damit passiert?“