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NachrufDas erhoffbare Alles

■ Der Soziologe Leo Kofler ist tot

Erst jetzt wurde bekannt, daß Leo Kofler, international renommierter Soziologe und Sozialphilosoph, am vergangenen Samstag in Köln an den Folgen eines Schlaganfalls gestorben ist. Als Vertreter eines kritischen Marxismus gehörte er schon in den vierziger und frühen fünfziger Jahren zu den Kritikern des Stalinismus.

Geboren am 26. April 1907 in der polnischen Ukraine, aufgewachsen im Wien der zwanziger Jahre, stieß Kofler – obwohl aus bürgerlichem Hause stammend – zur sozialistischen Arbeiterbewegung. Prägend waren für ihn die intellektuellen Auseinandersetzungen mit Max Adler und Georg Lukács. Nach dem faschistischen Einmarsch mußte Kofler in die Schweiz flüchten. Im Exil verfaßte der Autodidakt seine ersten beiden grundlegenden Werke zur Wissenschaft und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Seine undogmatische Handhabung dialektischer Theorie erregte sofort große Aufmerksamkeit, insbesondere seine Fähigkeit, empirische Detailanalyse und gesellschaftstheoretische Grundlagenforschung zu vereinen. Seinen Lehrstuhl für Soziologie in Halle/Saale, auf den er 1948 berufen wurde, mußte er 1950 wegen seiner Bürokratiekritik verlassen. Er siedelte nach Köln über. An den Hochschulen der Bundesrepublik wurde ihm jahrzehntelang eine angemessene Betätigung versagt. Obwohl er sich mühsam durch Vortragstätigkeit (v.a. für die Volkshochschule und gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen) über Wasser halten mußte, entstanden mehr als 30 teils sehr umfangreiche Bücher. Sein Interesse galt sehr vielen Bereichen der Gesellschaftstheorie und Philosophie; im Mittelpunkt stand das psychische und emotionale Leiden der Menschen trotz des zunehmenden Wohlstandes.

Die Studentenbewegung verschaffte ihm erstmals größere Breitenwirkung. Erst auf deren Druck wurde er 1972 urch Ernennung zum Honorarprofessor an der Ruhr-Universität Bochum eine akademische Lehrtätigkeit ermöglicht. Seine Vorlesungen hielt Kofler bis zum Beginn seiner Krankheit vor vier Jahren. Ernst Bloch schrieb über Leo Kofler: „So verdient genau das Denken den Namen Humanismus, das kritisches und antizipierendes Bewußtsein umwälzender Praxis zugleich ist. Kritisch zur objektiven Gewalt des Tatsachenscheins und konkret-utopisch bezogen auf objektiv-reale Möglichkeit und ihre Tendenz aufs erhoffbare Alles statt des drohenden Nichts.“ Gerhard Ormanns

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