: Das Zimmer hat Seegang
■ Klaus Michael Grüber inszenierte an der Berliner Schaubühne „Die Affäre Rue de Lourcine“ von Eugene Labiche
Ein Satz wie: „Gib mir ein Glas Rotweinschorle“, gesprochen von Udo Samel, kann abgrundtief witzig sein. Die Bedingungen dieses Witzes sind allerdings kompliziert. Es reicht nicht, daß die Situation, in der er gesagt wird, absurd ist - die Absurdität muß auch gelebt werden. Als er ihn sagt, hat Udo Samel als Lenglume, ein Pariser bürgerliches Individuum des 19. Jahrhunderts, Gatte Norines (Imogen Kogge), längst akzeptiert, daß er in der Nacht zuvor, zusammen mit seinem Schulkameraden Mistingue (Peter Simonischek), den er 27 Jahre nicht gesehen hatte, nach einem feuchtfröhlichen Internatsbankett, eine kleine Kohlenträgerin zerstückelt hat.
Er erinnert sich nicht, er hat sogar vergessen, wer Mistingue ist, der da aus seiner Bettkoje getreten ist und offensichtlich die Nacht bei ihm verbracht hat. Aber alle Indizien sprechen dafür: Der Zeitungsbericht über den Mord, die Kohlenstücke und das Haarteil in der Hosentasche. Die Gattin weiß nicht einmal, daß Lenglume in der Nacht weg war, der Diener (Sylvester Groth) ist irritiert, der Vetter (Roland Schäfer) scheint etwas gesehen zu haben. Daran knüpft sich eine Kette von Lügen, drastischen Mißverständnissen und schließlich Mordversuchen.
Alles ist daneben in diesem Stück, und zwar genau daneben. Elfriede Jelinek hat es ins selbstverständlichste heutige Alltagsdeutsch übertragen, Francis Biras‘ Bühnenbild aber zeigt einen Pariser Salon des 19. Jahrhunderts mit übergroßem Alpenpanorama an der Wand, Kamin, Kronleuchter und Spiegel, perspektivisch so verzerrt, in den Proportionen so verschoben, daß die Akteure darin immer leicht haltlos wirken.
Udo Samel geht durchs Zimmer, als hätte es Seegang. Er orientiert sich an den Gegenständen. Wenn er im Nachdurst eine Kanne Wasser austrinkt, vollführt er eine ausladende, aber irgendwie schüchterne Bewegung zur Kaminbrüstung hin, um sich zur Not daran zu klammern. Er zeigt weniger die Symptome von Restalkohol als die Versuche, sie zu verbergen. Imogen Kogge ist betrogene Gattenliebe, verhuschte Koketterie und sachtes Erröten, Peter Simonischek melancholisch in sich befangene Schwere, Sylvester Groth als Diener taktisch kluge, vornehme und stets pikierte Zurückgenommenheit, Roland Schäfer als Vetter verlegen einvernehmliches Grinsen.
Keiner ist sich sicher. Alle sind auf's Traurigste mit sich befaßt, verhaspeln sich in ihrer Angst um die Fassade, resignieren in ihre Verworfenheit, reden unablässig a parte vor sich hin, zu uns, die im Zuschauerraum sitzen als ihr bestürztes atemloses Überich, das registriert und weiß, ohne eingreifen zu können. Nur manchmal finden sie sich zusammen und intonieren hauchzarte, harmonisch intrikate, melismenreiche Madrigale (Musik: Peter Fischer), in denen sie die komplizierte Situation auf einfache Begriffe bringen wollen: „Ja, Verbrechen lohnt sich nicht.“
Die Lautstärke ist so gedämpft, die Rasanz der Farce so zeitlupenhaft gebremst, ihre Komik so beiläufig, daß sich der Zuschauer alleingelassen fühlt. Er bekommt die Komik nicht vorgeführt, sondern muß sie sozusagen hilflos konstatieren. Das macht sein Lachen irr und konvulsivisch. Er hört einen Satz wie: „Gib mir ein Glas Rotweinschorle“ und fühlt sich erinnert, ertappt, geschüttelt, traut sich aber nicht recht zu lachen, weil: Eigentlich ist an diesem Satz nichts komisch, außer vielleicht, daß Panik darunter zittert, und im intimen Zuschauerraum wird jedes Lachen vermerkt.
Andererseits kann sich Grüber, der tiefsinnigste Regisseur, die gröbsten Witze erlauben. Simonischek schnarcht, der Kronleuchter wackelt, das Zimmer wankt. Das wirkt im Grüberschen largo und piano durchaus verhängnisschwer (der Leuchter könnte fallen). Ganz befreit Grüber das Lachen nie.
Am Ende löst sich der entsetzliche Verdacht in nichts auf. Entsetzlich bleibt, daß keiner ihn abwegig fand.
Thierry Chervel
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