: Das Wort ist nicht autonom
■ Die Theatermacherin Ariane Mnouchkine über die Menschenrechte, Prinz Sihanouk und ihren neuen Film
Alexander Smoltczyk
Während der Parlamentsferien in diesem Sommer bevölkerten merkwürdige Gestalten die Pariser Nationalversammlung: Culotten mit gepuderten Perücken, revolutionäre und wortgewandte Priester und anarchische Sansculotten. Das „Theatre du Soleil“ hatte das Parlament besetzt, um La Nuit miraculeuse (Die wundersame Nacht) zu drehen, eine Art republikanisches Weihnachtsmärchen, das die Debatte der konstitutionellen Versammlung von 1789 über die Menschenrechte zum Thema hat. Der Film wird Heiligabend im französischen Fernsehen FR 3 gezeigt, der deutsche Sendetermin steht noch nicht fest. Nach den Dreharbeiten fuhr Mnouchkines Truppe nach Moskau, wo sie vom 15. bis zum 26. Oktober ihr Gandhi-Stück Indiade spielen wird - in Synchronübersetzung.
taz: Bislang haben Sie es stets abgelehnt, mit dem „Theatre du Soleil“ in die Sowjetunion zu fahren. Jetzt werden Sie Mitte Oktober für zwei Wochen in Moskau auftreten. Um Gorbatschow den Rücken zu stärken?
Ariane Mnouchkine: Ja. Das einzige Mal, das wir in einem nichtdemokratischen Land gespielt haben, war in Polen. Eine schlechte Erfahrung: Ohne Meinungsfreiheit für das Publikum kann ein Stück einfach nicht wirken. Das Wort ist nicht autonom. Wir hatten das Gefühl, der Regierung als Alibi zu dienen. Jetzt mit Gorbatschow ist die Situation anders - wir hätten eine große Verantwortung auf uns genommen, die Einladung zu dem Moskauer Festival abzulehnen. Es geht darum, den Menschen in der Sowjetunion zu zeigen, daß trotz aller Schwierigkeiten - die Welt eine große Hoffnung in sie setzt. Um zu sagen: gebt nicht auf, die Demokratie ist eine Sache, die nicht billig zu haben ist.
Weshalb zeigen Sie dann in Moskau nicht Ihr neues Stück über die Verfassungsdebatte von 1789, sondern die „Indiade“?
Die Indiade handelt von dem indischen Bürgerkrieg, von Ghandi, der Zerrissenheit eines Landes in zwei Lager, zwei Religionen. Unglücklicherweise ist genau dies eine brennend aktuelle Problematik in der Sowjetunion.
Während der ganzen Revolutionsfeierlichkeiten haben Sie geschwiegen. Jetzt haben Sie im August die Nationalversammlung gemietet, um einen Film über die Debatten der Revolutionäre von 1789 zu drehen, die Debatte um die Menschenrechte - also einen Moment, an dem eine nationale Versammlung Universalität beansprucht. Ist dies die Geschichte des Stücks?
Nein, das ist die Wirklichkeit. Die Geschichte des Films ist ein Märchen, ein Weihnachtsmärchen. Es geschieht ein Wunder, und dieses Wunder - das ich natürlich nicht verrate
-führt dazu, daß die Debatte um die Menschenrechte in der Nationalversammlung neu beginnt, am Weihnachtsabend 1989, zum Ende des Bicentenaire. Das Wunder zieht dann viele kleine Episoden nach sich.
Ist es der Text der Menschenrechtserklärung, der Sie interessiert, oder vielmehr die Art, wie er entstanden ist, die Auseinandersetzung?
Es ist dieser ungeheuer schwierige Weg, auf dem diese 17 Artikel entstanden sind. Wir kennen nur den Text, aber machen uns keine Vorstellung von der Mühe, der sich die ersten Repräsentanten der französischen Nation dreieinhalb Monate lang unterzogen haben. Wie schwer es war, sich über das Allgemeine einig zu werden. Sollte man die Erklärung der Verfassung voranstellen oder sie am Ende anfügen? Bedurfte es überhaupt universeller Prinzipien, reichte die Verfassung nicht aus? Eine sehr heftige, sehr aggressive, sehr anrührende Debatte. Und der Streit findet in den Monaten Juni, Juli, August 1789 statt! Währenddessen fällt die Bastille, werden die Privilegien des Adels abgeschafft, wütet die große Furcht in den Provinzen und und und. Dennoch diskutieren sie über Gott und die Welt und lassen sich nicht ablenken. Sie reden über Menschenrechte. Und sie schaffen es. Das Spannende ist, daß in dieser Debatte alles , was später geschieht, im Keim enthalten ist. Die Frage der Gewalt: Was kostet die Revolution? Wieviele Tote kann man sich leisten?
Die Frage, für welche Menschen die Rechte zutreffen und für welche - die Sklaven, die Frauen - nicht?
Oh, la, la! Die Frauen waren vollständig aus der Debatte ausgeschlossen. Noch mehr als die Sklaven. Erst 1792 gab es Frauengruppen, die ihre Rechte einklagten und buchstäblich über den Haufen gerannt wurden. Dagegen gibt es von Rabaut Saint-Etienne eine sehr berühmte Deklaration, die für die Protestanten und Juden Gleichheit fordert. Die Schwarzen kamen erst später. In dem Stück haben wir uns aber nur auf die Menschenrechts-debatte von 1789 konzentriert.
Es gibt einen Streit darüber, ob die Menschenrechtserklärung von 1789 der erweiterten UNO -Erklärung von 1948 übergeordnet sei (siehe taz vom 14.7.1989), daß das Recht auf Arbeit ein aus den Bürgerrechten abgeleitetes Recht sei. Teilen Sie diese Auffassung?
Natürlich, sie ist die Basis. Was mir an der Erklärung von 1789 gefällt, ist der Satz: Die Nationalversammlung erkennt an, daß die Erklärung der Menschenrechte nicht beendet ist. Aber sie wurde auch in unfertigem Zustand zur Abstimmung gestellt, damit sich die Delegierten der Arbeit an der Verfassung widmen konnten. Übrigens sollte auch das Mindesteinkommen für jeden Citoyen garantiert werden, aber die Initiative zur Aufnahme dieses Artikels kam zu spät, es hätte noch fünf bis sechs Tage diskutiert werden müssen und die Zeit hatten sie nicht.
Alle Welt feiert die Menschenrechte. Ist das überhaupt noch ein Thema, das die Leute hier, in der ersten Welt, interessiert?
Ich glaube schon, denn sie werden ja nicht respektiert, nicht ganz und gar. In welchem Land gibt es eine wirkliche Gleichheit zwischen Mann und Frau, zwischen den Schwarzen und den Weißen?
Sie haben 1978 eine Vereinigung zur Unterstützung verfolgter Künstler gegründet, die AIDA, und haben später eine Kampagne für den chinesischen Dissidenten Wei Jingsheng gestartet. Wird Ihr nächstes Projekt China zum Thema haben?
Bisher nicht. Ich muß gestehen, daß sich um AIDA im Augenblick niemand kümmert. Diejenigen, die sich in Frankreich engagiert haben, und das war vor allem das „Theatre du Soleil“, sind nicht durch neue Leute ersetzt worden.
Tiananmen ist doch die Gelegenheit, die Arbeit wieder aufzunehmen...
Es gab viele Gelegenheiten. Tibet zum Beispiel. Oder die schwarzen Studenten in Peking, die von denselben Studenten verfolgt worden sind, die auf dem Tiananmen-Platz für Freiheit demonstrierten... Wir arbeiten fallweise, und unser Fall war Wei Jingsheng, der immer noch gefangen gehalten wird. Er hat schon vor zehn Jahren die Demokratie gefordert.
Sie haben einmal ein Königsdrama über den Prinzen Sihanouk geschrieben, die Schlüsselfigur im Kambodscha-Konflikt. Nun ist die Pariser Konferenz gescheitert. Und manche hatten den Eindruck, daß es gerade die schillernde Persönlichkeit Sihanouks war, die sie scheitern ließ, weil er sich anscheinend nicht von den Roten Khmer lösen kann.
Ich bin völlig anderer Meinung. Wenn man immer noch von Kambodscha redet, dann dank Sihanouk. Er fordert seit langem, daß China die Roten Khmer fallen läßt. Was die Situation in Kambodscha blockiert, ist die jüngste Entwicklung in China. Die Roten Khmer existieren. Und Sihanouk sagt: Wenn wir die Khmer nicht am Verhandlungstisch haben und China sie weiter unterstützt, dann haben wir sie in den Wäldern. Wenn die Verhandlungen tatsächlich scheitern, ist alles aus. Dann wird das Land bald zwischen Thailand und Vietnam aufgeteilt werden. Die Sowjetunion hat einen deutlichen Schritt unternommen, indem sie Vietnam zum Abmarsch drängte. Jetzt liegt alles an China. China glaubt, durch die Roten Khmer die „Hegemoniegelüste“ Vietnams im Zaum zu halten. Ich muß Ihnen sagen, als ich von Tiananmen hörte, war mein zweiter Gedanke: jetzt ist es aus für Kambodscha. Es war der unglücklichste Zeitpunkt. Genau vor der Pariser Konferenz übernehmen die Hardliner die Zügel in China. Auf dem Tiananmen haben die Roten Khmer gesiegt, und Sihanouk hat verloren.
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