Das Wiedersehen ertragen

Ruth Elias, als Jüdin von den Nazis verfolgt, besucht Deutschland / In Auschwitz war ihre neugeborene Tochter Versuchsobjekt von Dr.Mengele / Mit einer Morphiumspritze tötete sie ihr Kind und rettete sich damit das Leben  ■  Von Heide Soltau

Die Ankunft war schwer. Ich habe vorher nicht daran gedacht, daß mir etwas geschehen könnte.“ Ruth Elias schluckt und wendet den Kopf zur Seite. Als sie mich wieder anblickt, stehen Tränen in ihren Augen. „Als ich mit dem Intercity-Zug erster Klasse in Hamburg einfuhr, da kam mit einer riesigen Wucht auf mich: Vor 44 Jahren bist du im Viehwaggon hier eingetroffen.“ Von draußen ist ein Martinshorn zu hören. Das schrille Signal dringt durch das geöffnete Fenster in das Hotelzimmer und übertönt ihre Stimme. Ruth Elias zieht kaum merklich die Schultern hoch und drückt mit der linken Hand das Fenster zu. „Im Zug habe ich geweint. Ich war glücklich, daß mein Mann neben mir ist und ich in ihm eine Stütze finde.“ Als das Tatütata in der Ferne verklingt, entspannt sich ihre Haltung.

Am 14.Juli 1944 kam Ruth Elias von Auschwitz nach Hamburg. Zur Zwangsarbeit im Freihafen. Das bombardierte Deutschland brauchte junge Arbeitskräfte, die Aufräumarbeiten leisteten. Die Arbeit war schwer, zu schwer für die entkräfteten jüdischen Häftlinge. Und dennoch: Hamburg bedeutete ein Stück Erleichterung, ein Stück weg von Auschwitz, „weg von den Gasöfen, weg vom sicheren Tod“. Nach drei Tagen war es vorbei mit der „gelockerten Atmosphäre“. Was Ruth Elias bislang verschwiegen hatte, war herausgekommen: Sie war im achten Monat schwanger. Gemeinsam mit einer anderen Frau mußte sie Hamburg verlassen, wurde zunächst ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und dann zurück nach Auschwitz. Dort kam im August ihre Tochter zur Welt, ein gesundes Mädchen, das sofort als Versuchsobjekt in die Hände von Dr.Mengele geriet. Ruth Elias mußte abstillen, weil er herausfinden wollte, wie lange ein Säugling ohne Nahrung existieren kann. Während sie ihr sterbendes Kind in den Armen hielt, wußte sie, daß es keine Rettung geben würde. Denn Mütter und ihre Kinder kamen alle ins Gas. In ihrer Verzweiflung gab Ruth Elias dem sterbenden Baby eine Morphiumspritze und rettete sich damit das Leben. „Ja, ich tötete mein eigenes Kind. Ja, Herr Dr.Mengele, Sie haben mich zur Kindsmörderin gemacht. Ich habe mein eigenes Kind gemordet.“

44 Jahre später hat Ruth Elias ihre Autobiographie geschrieben - für ihre Enkelkinder. Lange hatten sie und ihr Mann Kurt geschwiegen. „Die zwei Söhne sollten als freie Bürger aufwachsen, und wir dachten, wenn man darüber nicht spricht, würde alles in Vergessenheit geraten“, erzählt Ruth Elias und schaut ihren Mann von der Seite an. Sie hätten die Kinder mit dem Schrecklichen nicht belasten wollen, „aber es geht nicht. Es kommt immer wieder zurück. Immer wieder.“ Sie sagt das ruhig und ohne Bitterkeit in ihrem böhmisch-deutsch gefärbten Dialekt mit dem rollenden Rrr und den offenen Vokalen. „Aber ich lebe nicht in der Vergangenheit“, fügt sie lebhaft hinzu, als wollte sie die schlechten Gedanken vertreiben. „Ich bin, glaube ich, sehr optimistisch. Wir haben eine hübsche Familie aufgebaut, zwei erwachsene Söhne, zwei phantastische Schwiegertöchter, sechs herrliche Enkel, und wir haben uns aktiv am Aufbau unseres Staates beteiligt, und das gibt uns sehr viel Genugtuung.“

Die Hoffnung erhielt mich am Leben hat Ruth Elias ihre Autobiographie genannt, einen Text, den sie ohne jeden literarischen Anspruch geschrieben hat und den der Piper -Verlag nur sehr behutsam redigiert hat. Eine richtige Entscheidung, denn das Buch ist das Leben der Frau und daran läßt sich nichts glätten. Chronologisch und um Detailgenauigkeit bemüht, schildert Ruth Elias ihr Leben. Nach Theresienstadt deportiert

1922 geboren, verbrachte sie die Kindheit im tschechischen Ostrau (Ostrava), wuchs nach der Trennung der Eltern zunächst im Hause eines Onkels auf, besuchte ein Internat und kehrte zu ihrem Vater zurück, nachdem dieser sich wieder verheiratet hatte. Im März 1939 besetzten die Nationalsozialisten die Tschechoslowakei. Ostrau war die erste Stadt. Ruth Elias und ihre Schwester mußten die deutsche Schule verlassen, die väterliche Fleischerei und Wurstfabrik wurde „arisiert“. Der Vater, selbst zu krank für eine Emigration, bemühte sich, wenigstens für seine beiden Töchter eine Ausreisebewilligung zu bekommen. Wider Erwarten bewilligte man diesen Antrag, doch aus Angst um ihren kranken Vater weigerten sich Ruth Elias und ihre Schwester, das Land zu verlassen. Die Familie tauchte daraufhin in einem kleinen Dorf unter, wo sie unerkannt leben konnte, bis sie 1942 verraten und nach Theresienstadt deportiert wurde. Durch eine Heirat mit einem jüdischen Häftling, der im Ghetto die Position eines Wachposten versah, konnte sich Ruth Elias zunächst vor dem Weitertransport nach Osten retten. Doch 1942 gab es keinen Aufschub mehr. Auschwitz hieß die nächste Station. Ruth Elias war inzwischen schwanger, aber es gelang ihr, ihren Zustand zu verheimlichen und damit der sofortigen Vernichtung zu entgehen. Nach Hamburg und dem Tod ihres Kindes kam sie mit anderen Arbeitsfähigen nach Taucha bei Leipzig, wo sie am 18.April 1945 von den Amerikanern befreit wurde und in die Tschechoslowakei zurückkehrte. Dort machte sie sich auf die Suche nach ihren Eltern. Vergeblich. Bis auf einzelne entfernte Verwandte ist die gesamte Familie ausgelöscht.

„Die Hoffnung erhielt mich am Leben, das war die Hoffnung, meine Familie wiederzusehen“, sagt Ruth Elias und senkt die Augen. Nein, es gibt keine Erklärung, warum ausgerechnet sie überlebte, warum sie im richitgen Moment die richtige Lüge erfand. War es einfach Glück oder „Instinkt“, wie Ruth Elias meint? „Ich war jung, ich wollte leben.“ Als sich die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Familie zerschlägt, bricht sie zusammen. Warum noch leben? Allein. Für was?

Ruth Elias lebt nach dem Krieg in Prag, heiratet und versucht, ein neues Leben aufzubauen. Aber die Vergangenheit lebt und quält. Und immer wieder gibt es antisemitische Äußerungen. „Ja, wenn alle Juden so wären wie du, aber...“ Ein Satz, den sie oft hört und der schließlich den Ausschlag gibt für die Emigration. 1949 wandern sie und ihr zweiter Mann nach Israel aus. Heute stolze Israelin

„Heute bin ich eine stolze Israelin in meiner Heimat. Wir hatten ja bis jetzt keine Heimat. Meine Heimat ist nun Israel, obzwar ich mit meinem Mann weiter tschechisch spreche.“ Ruth Elias sagt es mit leuchtenden Augen. Obzwar... manchmal schleichen sich altertümliche Worte in ihre Rede ein. „Es ist die deutsche Sprache, die ich vor 50 Jahren gelernt habe“, sagt sie lächelnd, „aber ich glaube, ich kann sie noch ganz gut.“ Es ist die Sprache ihrer Kindheit, die Sprache ihrer Familie und die Sprache, in der sie auch ihre Autobiographie geschrieben hat.

17 Städte hat Ruth Elias besucht, um ihr Buch vorzustellen. Wie geht es ihr dabei, wie geht es ihr in der Bundesrepublik? Das erste Mal sei sie 1974 im Auftrag Israels hier gewesen, erzählt sie. Sonst wäre sie nicht gekommen. „Ich habe immer gesagt, mein Fuß wird Deutschland nicht wieder betreten.“ Mit dem Schutz ihrer Heimat im Rücken konnte sie das Wiedersehen ertragen. Aber es war schwer und ist es noch heute. Am Tag zuvor hat sie den Hamburger Freihafen besucht. Wieder einmal überfielen sie die Erinnerungen, wie so oft, wenn sie Bilder sieht oder auch nur den Ton einer Stimme hört. Haß aber habe sie nicht gespürt, Ruth Elias schüttelt den Kopf. Ihr gebräuntes Gesicht ist entspannt: „Nur wenn ich ältere Leute treffe auf der Straße, da frage ich mich immer: War das dein Aufseher? Was hat er zur Zeit Hitlers gemacht? Es fällt mir heute noch schwer, die zu sehen. Da sag ich ganz global, das waren alles Nazis.“ Die Stimme klingt ruhig. Ruth Elias sagt das sachlich und ohne allen Vorwurf. Eine warme, ausgeglichen wirkende ältere Frau, die mich gütig lächelnd ansieht und von ihrem Leben erzählt. Ein Mensch, der mit sich versöhnt scheint. Woher nimmt sie die Kraft? „Ich freue mich an meiner kleinen Familie, an den Tieren und den Blumen auf meiner Veranda. Für mich ist das das Leben“, verrät sie das Geheimis ihrer Zufriedenheit. „Und ich liebe mein Land, ich gehe mit stolz erhobenem Haupte.“

Ruth Elias hat ihr Haus in Israel jungen Deutschen geöffnet. „Meine Generation und die der alten Nazis wird aussterben. Und wenn man unter den jungen Leuten eine Brücke schaffen könnte, einen offenen Dialog über das, was gescheheh ist, ein gegenseitiges Verständnis, dann habe ich eine gute Arbeit geleistet.“