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Archiv-Artikel

Das Versprechen von Nürnberg

Das NS-Tribunal verurteilte vor 60 Jahren Nazitäter. Das war eine Revolution im internationalen Recht. Sie wirkt bis heute – doch noch immer ist vieles uneingelöst

Ohne Nürnberg würde es den Internationalen Strafgerichtshofin Den Haagheute nicht gebenAuch Politiker sind individuell verantwortlich – das ist eine bleibende Botschaft der NS-Prozesse

Eine Weltpremiere. Noch nie hatte es ein international besetztes Gericht gegeben, vor dem sich die Führer eines Staates für die von ihnen begangenen Verbrechen zu verantworten hatten. Der Nürnberger Prozess gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher bedeutete in juristischer wie in moralischer Hinsicht einen tiefen Einschnitt, manche sprachen von einer Revolution.

Zuvor hatte, von einem fruchtlosen Anlauf nach dem Ersten Weltkrieg abgesehen, gegolten, dass der Mantel staatlicher Souveränität die Verantwortlichen als Individuen vor Strafverfolgung schützen würde. Jetzt, in Nürnberg, wurde erstmals Staatsverbrecher dingfest gemacht. Auch diejenigen, die die mörderischen Taten unmittelbar ausführten, sollten sich laut Statut auf keinen Befehlsnotstand berufen können. Die Errichtung eines internationalen Militärtribunals (IMT) der Alliierten war keineswegs selbstverständlich gewesen. Die britische Regierung unter Churchill favorisierte eine sehr einfache Alternative. Die Haupttäter sollten ohne Verfahren erschossen werden. Dass es dann doch zum Prozess kam, ist vor allem Resultat der Erschütterung, die die Massen- und Völkermorde der Nazis bei der Bevölkerung der alliierten Mächte ausgelöst hatten. Der Prozess war das Echo des Rufs nach Gerechtigkeit.

Das Statut des IMT normierte Tatbestände, die es zum größeren Teil im Völkerrecht bislang nicht gegeben hatte. Lediglich bei der Anklage wegen Kriegsverbrechen bewegte man sich auf sicherem Rechtsboden, zum Beispiel dem der Haager Landkriegsordnung. Neuland wurde betreten mit der Normierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die allerdings in Zusammenhang mit der NS-Kriegsführung gebracht wurden. Der Mord an den europäischen Juden und die Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung in den besetzten Ländern wurden quasi als Verlängerung der Kriegsverbrechen behandelt.

Neu war auch die Anklage wegen der Führung eines Angriffskrieges. Zwar hatte der Briand-Kellog-Pakt in der Zwischenkriegszeit Angriffskriege geächtet, aber bei seiner Verletzung keine Sanktionen angedroht. Der neue Straftatbestand ist nur vor dem Hintergrund der politischen Grundstimmung unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erklärbar – einer Zeit des Aufbruchs, in der in ein für alle Male Schluss gemacht werden sollte mit den Kriegen. Insbesondere der Ankläger der USA, Robert Jackson, hatte sich zum Fürsprecher dieses Anklagepunktes gemacht, eine historische Ironie, wenn man die spätere negative Haltung der USA gegenüber dem Tatbestand „Verbrechen gegen den Frieden“ bedenkt.

Die zahlreichen Einwände gegen das Statut des Nürnberger Prozesses lassen sich auf zwei Hauptpunkte und eine Schlussfolgerung konzentrieren. Kritisiert wurde zum Ersten, dass das ganze Verfahren dem Rückwirkungsverbot widerspreche, also dem Rechtsgrundsatz, dass Angeklagte nur aufgrund von Gesetzen, die zur Tatzeit galten, verurteilt werden könnten. Zweitens wurde geltend gemacht, dass das Gericht der Alliierten nur über Verbrechen der Nationalsozialisten, nicht aber über Verbrechen der „eigenen“ Seite urteilen sollte. Schlussfolgerung: Siegerjustiz.

Der erste Einwand war stets heuchlerisch gewesen. Das Rückwirkungsverbot hatte international nie die gleiche Geltung gehabt wie im deutschen Recht und war zudem von den Nazis selbst außer Kraft gesetzt worden. Zum zweiten Einwand äußerte sich der Ankläger der USA, Robert Jackson: „Dieses Recht wird als Erstes gegen die deutschen Aggressoren angewandt. Aber wenn es von Nutzen sein soll, muss es die Aggression jeder anderen Nation ahnden, einschließlich derer, die heute Gericht halten.“ Die Kernfrage lautet: Hat sich Jacksons Auffassung historisch bestätigt?

Direkt nach dem Nürnberger Prozess wurde das dort angewandte Recht durch die UNO in geltendes Völkerrecht überführt. 1948, schon mitten im Kalten Krieg, gelang es noch, die Konvention gegen Völkermord durchzubringen, die einen Teil des Nürnberger Tatbestandes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abdeckt. Auch wurde das humanitäre Völkerrecht in den 70er-Jahren erweitert. Aber die Kodifizierung des Völkerstrafrechts wurde ebenso Opfer der Kalten-Kriegs-Blockierung wie das Projekt eines internationalen Strafgerichtshofs. Dieser Traum schien ausgeträumt, „Nürnberg“ obsolet.

Die Situation änderte sich 1989 grundlegend. Nach dem Ende der Systemkonkurrenz hofften viele auf eine künftige, friedlich kooperierende, international gültigen Rechtsnormen verpflichtete Staatenwelt. Diese Erwartung war durchaus mit der unmittelbar nach 1945 vergleichbar. Als im Verlauf der 90er statt des allgemeinen Friedens eine Vielzahl von Bürgerkriegen und zwischenstaatlichen Konflikten ausbrach, lebte die Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof (ICC) wieder auf. Den Auftakt bildeten die Ad-hoc-Gerichtshöfe der UNO zu Jugoslawien und Ruanda, die sich allerdings nur auf einen Beschluss des Sicherheitsrates stützten. Darauf folgte eine Koalition von „like-minded Nations“, darunter Deutschland, die die große Mehrheit der UNO-Staaten hinter dem Vertragsentwurf für einen Gerichtshof vereinigte, der wirklich unabhängig war.

Kernpunkt des Streits war, ob das künftige Strafgericht am Gängelband des Sicherheitsrats gehalten würde, damit dem Vetorecht seiner ständigen Mitglieder ausgesetzt wäre. Hier haben die „like-minded“ ihren größten Sieg errungen. Das Gericht kann aus eigener Initiative tätig werden, wenn Staaten entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, den Normen des Strafvölkerrechts Geltung zu verschaffen. Voraussetzung ist, dass der Staat, in dem Verbrechen begangen wurden oder dessen Staatsangehörige die Täter sind, das Statut ratifiziert hat. Ist dies nicht der Fall, so bedarf es einer Resolution des Sicherheitsrats, wie im Fall des Sudans geschehen. Der stärkste Anknüpfungspunkt an Nürnberg ist die individuelle Verantwortlichkeit der Täter, materiell steht das Gericht in der Tradition der Nürnberger Grundsätze.

Die ganze Konstruktion hat zwei Pferdefüße. Zum einen weigern sich drei Vetomächte, die USA, Russland und China, dem Statut beizutreten. Die USA verfolgen hierbei eine aktive Obstruktionspolitik, die Drohungen gegenüber Signatarstaaten des ICC einschließt. Zum Zweiten ist die strafrechtliche Verfolgung von Angriffskriegen weiterhin außer Reichweite. In der Auseinandersetzung über das Statut spiegeln sich zwei grundlegend verschiedene Vorstellungen über die künftige Gestaltung der Staatenbeziehungen. Die universalistische, auf Dialog, Ausgleich und völkerrechtliche Normierung gerichtete und die unilaterale, die, mit der Supermacht USA an der Spitze, auf undurchdringliche staatliche Souveränität und auf militärische Macht setzt. Der Ausgang dieses Streits wird darüber entscheiden, ob das Versprechen von Nürnberg eingelöst werden kann oder nicht. CHRISTIAN SEMLER