: Das Tabu ist zurück
Eine dringend notwendige Warnung vor einem drohenden Wort-Revival
Noch lässt sich nichts Definitives sagen, aber die Zeichen mehren sich in einem Maße, dass wohl von einem Menetekel gesprochen werden darf: Das Tabu ist wieder da!
In Deutschlands bedrückendsten Stunden, den momentan von windigen Geschäftemachern wieder als schwer en vogue angedienten Achtzigerjahren, hatte das Tabu Konjunktur. Nicht von ungefähr war es der Kommerzsender RTL, der jenes dunkle Jahrzehnt zur Show verniedlichte und hernach, mit Pressemitteilung vom 6. August 2002, auch das Tabu wieder ins Spiel brachte. Mit der Macht des Marktfürers nämlich wird RTL im Herbst den Versuch unternehmen, mit Hilfe und im Zuge des Fernsehfilms „Sektion – Die Sprache der Toten“ „das Thema ‚Sektion’ (medizinischer Ausdruck für Leichenöffnung) zu entabuisieren.“ Enttabuisieren! Was, weil es sich um einen so genannten Hintertürpilotfilm handelt, der leider viel zu oft eine Serie nach sich zieht, über kurz oder lang noch üble Folgen haben wird.
Die erste ließ prompt nicht lange auf sich warten. Am 21. August nahm wiederum bei RTL der Parteienforscher Professor Peter Lösche das Unwort in den Mund, als er wissenschaftlich fundiert orakelnd unkte, dass jede kommende Regierung egal welcher Couleur dem Volke bittere Pillen verabreichen werde, auch wenn diese ungeschönte Wahrheit zu Wahlkampfzeiten einem, na?, genau: Tabu unterliege.
Der beinahe so beliebte wie beleibte Schwerdenkerdarsteller Dieter Pfaff hieb mit mächtiger Pranke in dieselbe Kerbe, wenn man der FAZ vom 23. August Glauben schenken darf. Was an dieser Stelle ausnahmsweise geschehen soll, auch wenn unsereins nichts zu verschenken hat. So aber schrieb die FAZ: „ ‚Natürlich hat Fitz geholfen’, sagt Dieter Pfaff an einem regnerischen Morgen in Baden-Baden, wo sich der Schauspieler gerade anschickt, mit seiner neuen Rolle ‚das Tabu zu brechen‘.“
Diskret verschweigt die Autorin die näheren Umstände des waghalsigen Experiments. Nahm Pfaff tüchtig Anlauf, als er aufs Tabu losstürmte? Genügte ihm sein gewichtiges Auftreten? Langte er mit bloßen Händen zu? Wer’s weiß, gebe Bescheid.
Nachgeborene werden vielleicht fragen, was es überhaupt auf sich habe mit dem Tabu, und ihnen soll Antwort zuteil werden. Führende Figur der Anti-Tabu-Bewegung der Achtzigerjahre war einwandfrei Sina Aline Geissler, die Muse aller aktuellen Bekenntnis-Talkshows, die sich in Büchern wie „Immer, wenn ich mich verführe. Weibliche Selbstbefriedigung – ein Tabu wird gebrochen“ ein Tabu nach dem anderen vornahm und es mitleidlos zwischen ihren masturbationsgestählten Fingern zerquetschte. Und Tabus lauerten überall. „Das Tabu des bestimmten Artikels“ beispielsweise, beschrieben 1985 in System ubw. Zeitschrift für klassische Psychoanalyse. Auch „Der Tod in der Astrologie. Das Tabu-Thema astrologischer Todeskonstellationen in neuem Licht“ wurde fachgerecht tranchiert. Vorwitzig registrierten Hans Filbinger und Konsorten 1986 via Buchtitel: „Die Medien – das letzte Tabu der offenen Gesellschaft“. Irrtum, meine Herren – zehn Jahre später erschien das „Handbuch Grundschule und Computer“ mit der vielsagenden Unterzeile: „Vom Tabu zur Alltagspraxis“.
Ende der Neunzigerjahre dann schien das Tabu zeitweilig von der Ausrottung bedroht, doch haben sich die Bestände unterdessen nicht nur prächtig erholt, sie könnten gar im Begriff sein, sich erneut zur Plage auszuweiten. Sicherlich ist es verfrüht, Katastrophenalarm auszurufen, doch für eine vorsichtige Warnung ist hinlänglich Anlass gegeben. Sage hinterher bloß niemand, er habe es nicht gewusst.
HARALD KELLER
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