: Das Straßenbild
Der Reklamehorror. Heute: Berlin, Schützenstraße Ecke Friedrichstraße
Kein Wort heute über die Irrungen und Wirrungen der Werbung. Über das angeblich lebensrettende Büchlein „Kraft zum Leben“ ist ohnehin längst genug geschrieben worden. Heute wollen wir etwas erzählen. Und zwar eine wahre Geschichte. Die Geschichte von einem Buch, das wirklich einmal ein Menschenleben gerettet hat. (Und ein anderes gekostet. Na ja, so ist halt das Leben.)
Es begab sich vor ein paar Jahren, dass eine Dame in den besten Jahren – nennen wir sie Maria, denn so hieß sie wirklich – sich von ihrem auch nicht mehr jungen Freund getrennt hatte: „Johnny, es ist aus zwischen uns!“ Johnny (er hieß irgendwie anders, aber sein Name ist mir entfallen) konnte das nicht finden und wurde, wozu er von Natur ohnehin neigte: fies. Drohte mit Mord und Totschlag, und um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, würgte er Maria schon einmal zur Probe.
Das Schloss zur Wohnungstür war schnell ausgetauscht, doch die Angst ließ sich nicht so schnell aussperren wie Johnny. Von nun an sollte das Telefon nachts oft klingeln. Manchmal war niemand in der Leitung, manchmal wiederholte Johnny, was er Maria schon drastisch genug vor Augen geführt hatte. Maria ließ sich eine Geheimnummer geben. Nun blieb das Telefon stumm, doch wurde es dadurch wirklich besser?
Maria begann sich zu verändern. Früher war sie lebenslustig gewesen, ach was, eine Nervensäge, stets zwei Spuren zu laut, zu anstrengend. Nun wurde sie kleinlaut, verzagt. In ihrer Not und weil die Polizei ihr nicht recht weiterhalf, suchte sie eine Wahrsagerin auf. Absurd? Vielleicht. Die Kartenlegerin musste erst einmal davon überzeugt werden, dass Maria nicht – wie sonst – über neues Liebesglück informiert werden wollte.
„Maria!“, hieß es nach einem langen Blick in die Karten, „Du schwebst in allerhöchster Gefahr. Aber mit diesem Gedicht hier kann dir nichts passieren. Es wird dich retten.“ Die Frau gab ihr ein dünnes Büchlein und tippte mit dem Finger auf einen langen Vers. Maria war von der Wahrhaftigkeit der Kartenlegerin nicht so überzeugt, wie sie es früher in Sachen Liebe so bereitwillig gewesen war. Doch die Stunde der Bewährung ließ nicht lange auf sich warten.
Als sie ein paar Tage später müde von der Arbeit zurück in ihre Wohnung kam, war Johnny schon dort. Über den Balkon war er gekommen, hatte die Fensterscheibe eingeschlagen. Und nun bedrohte er Maria mit einer Pistole. „Du Sau, dich mach ich fertig!“ Maria flehte um ihr Leben, was ihn noch überheblicher werden ließ. „Keine Angst“, höhnte er. „Ich warte, bis deine Tochter da ist. Die soll zusehen, wie du krepierst.“ Maria musste sich aufs Bett legen, Johnny setzte sich an die Schlafzimmertür. Es begann ein stundenlanges Warten. Seltsam, sonst kam die Tochter doch immer spätestens um acht von ihrer Freundin zurück. Maria versuchte, ruhiger zu werden, was ihr aber nicht gelang. Himmel, sie hatte das Gedicht nicht auswendig lernen können! Zu lang, zu kompliziert. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Büchlein lag in der Nachttischschublade: die Rettung so nah, so fern.
Irgendwann schien Johnny müde zu werden, unaufmerksam. Mit einem entschlossenen Satz sprang Maria zum Nachttisch und riss die Schublade auf. Johnny war erst völlig verdutzt, dann stürzte er sich auf Maria. Ein kleiner Kampf, dann hatte er gesiegt. Er entriss ihr das Buch. Und registrierte zu spät, dass Maria seinen Revolver zu fassen bekam. Sie drückte nur einmal ab. Johnny war sofort tot.
Es gibt sie also tatsächlich: Bücher, die Leben retten. Congratulations, Maria! REINHARD KRAUSE
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