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Das Spiel und der Krieg

Wie ein junge Frau aus der Ukraine im polnischen Exil von einer besseren Zukunft für den Frauenfußball träumt. Die Erinnerung an ihren im Krieg gefallenen Cousin ist dabei stets präsent

Heimspiel vor leeren Rängen: Die Teams aus der Ukraine und Belgien vor dem Playoff-Hinspiel zur EM-Qualifika­tion in Antalya Foto: sportpix/imago

Aus Luzk Juri Konkewitsch

Richtig große Erfolge hat der Fußball der Frauen in der Ukraine nicht vorzuweisen – noch nicht. Für die EM konnte sich das Team nicht qualifizieren. Das Frauenteam der Fußballnation war noch bei keinem der großen Turniere dabei. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Auswahl in der Qualifikation für die EM in der Schweiz bis in die zweite und finale Playoff-Runde vorgekämpft hatte. Dort scheiterte das Team, das seine Heimspiele seit der Vollinvasion russischer Truppen im Ausland austragen muss, an Belgien.

Die traurigen Bilder aus dem türkischen Antalya von der 0:2-Niederlage vor leeren Rängen im Playoff-Hinspiel gegen die Belgierinnen illustrieren den Fußballalltag des Nationalteams zu Kriegszeiten. Nach der Pleite gegen Belgien Ende des vergangenen Jahres gelang dem Team in diesem Frühjahr der Aufstieg in die Liga A der Nations League der Europäischen Fußballunion Uefa, wo die 16 besten Teams des Kontinents spielen. So erfolgreich waren die Frauen der Ukraine noch nie.

Doch da geht noch mehr. „Ich habe einen großen Traum“, sagt Anastasia Samitschenko, „den Traum, den Frauenfußball in der Ukraine weiter zu entwickeln“. Die 21-jährige Ukrainerin lebt derzeit im polnischen Wrocław. Da hat sie vor Kurzem die Uefa-C-Lizenz als Trainerin erhalten und trommelt gerade Kinder zusammen, um mit ihnen an einer örtlichen Fußballakademie zu arbeiten.

Sie möchte das fußballerische Erbe ihres Cousins antreten, der bei der Verteidigung von Mariupol fiel. Oleksandr Derewjanko war glühender Fußballfan. Anastasia erinnert sich an ihren fünf Jahre älteren Vetter. Der kickte in der Dorfmannschaft von Wosnessensk in der Region Tscherkassy und später in einer Bezirksauswahl. Die kleine Anastasia feuerte ihn regelmäßig an. Wenn Cousin Oleksandr im Hof kickte, spielte er seiner Cousine den Ball zu. Die machte sich gut am Ball und bald nahm er sie zum Training mit. Wenn abends Spiele von Dynamo Kyjiw oder der Nationalmannschaft gezeigt wurden, saßen sie gemeinsam vor dem Fernseher.

Später nahm Oleksandr eine Arbeit in der Hauptstadt Kyjiw an, trainierte als Kampfsportler und wurde Ultra beim Traditionsklub Dynamo. Cousine Anastasia spielte derweil für die Frauenmannschaft von Wosnessensk Fußball und wurde in die Regionalauswahl der Region Tscherkassy berufen. „Da wurde mir klar, dass Fußball mehr sein kann als ein Hobby, etwas, was mein Leben wirklich bestimmen kann“, erinnert sie sich heute.

Ihr Cousin entschied sich unterdessen für eine militärische Ausbildung und wurde im September 2020 als Kämpfer in das Asow-Regiment aufgenommen. Oleksandr Derewjanko erlebte den Beginn der russischen Totalinvasion in Mariupol. Derewjankos Mutter Anna erinnert sich, dass fortan nur noch für 30 Sekunden am Tag die Möglichkeit bestand, mit ihrem Sohn zu sprechen. In dieser halben Minute teilte er mit, dass er am Leben sei, und fragte, ob Kyjiw sich habe halten können. Zu dieser Zeit tobten in Mariupol heftige Kämpfe, doch Derewjanko verlor nicht den Mut, versuchte in jeder Situation vor allem das Positive zu sehen. So erinnern sich jedenfalls seine Kameraden an ihn. Am 3. April 2022 fiel er. 24 Jahre war er, als er starb.

„Jedes Mädchen hat die Chance verdient, Fußball zu spielen“

Anastasia Samitschenko

Seine Mutter hat die Kisten aufgehoben, die er bei ihr untergestellt hatte, nachdem er beim Asow-Regiment angeheuert hatte. Fußball­sticker, Sportmedaillen und Fan-T-Shirts sind unter anderem darin. An seinem Todestag veranstaltet die Schule seines Heimatortes zu seinen Ehren ein Fußballturnier.

Die Geschichte ihres Cousins lässt Anastasia Samitschenko nicht los. Zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine folgte sie ihrer Mutter als Kriegsflüchtling nach Polen. Sie sagt: „Mein Leben hat sich komplett verändert, immerhin der Fußball ist mir geblieben.“ Als ihr Cousin in der von russischen Truppen eingekesselten Stadt Mariupol starb, beschloss Anastasia, eine Trainerausbildung zu machen. Fußball sollte zu einem festen Teil ihres Lebens werden. Und so zog sie nach Wrocław, wo sie sich an der Fakultät für Sport einschrieb und gleichzeitig eine Trainerinnenausbildung absolvierte. Mit der C-Lizenz, die sie inzwischen erworben hat, darf sie Kinder im Alter von 4 bis 14 Jahren sowie Amateurmannschaften in den unteren Ligen trainieren. Gerade ist sie dabei, in Wrocław ihre erste Kindermannschaft aufzubauen. Es ist eine Jungsmannschaft.

Sie hofft, dass sich bald auch Mädchen ihrem Team anschließen. „Es gibt hier viele ukrainische Mädchen, und ich würde mich sehr freuen, wenn eines von ihnen zu uns kommt. Ich glaube, dass jedes Mädchen, egal woher es kommt, eine Chance verdient, zu spielen, dabei zu wachsen und seine Träume zu verwirklichen“, sagt sie. Und dann kommt sie zurück zu ihrem eigenen Traum – einem Leben mit und für den Fußball. Sie möchte bald schon ihr eigenes Team führen, ihren eigenen Klub gründen, „einen Ort für Mädchen, die Fußball wirklich lieben und ihr Leben dem Fußball widmen möchten, auch wenn ihnen früher gesagt wurde, dass Fußball nichts für Frauen ist“.

Anastasia Samitschenko präsentiert vor der polnischen Trainerakademie stolz ihre gerade erworbene C-Lizenz als Übungsleiterin Foto: privat

Ihr eigener Verein soll auch dem Gedenken an ihren Cousin Oleksandr dienen, der sie auf ihrem Weg in den Fußball immer unterstützte. „Es soll ein Ort sein, an dem sein Geist weiterlebt – seine Leidenschaft für den Fußball, seine Liebe zur Ukraine und sein aufrichtiges Herz“, sagt sie. Ganz große Worte wählt sie für ihren Traum: „Mein Cousin hat mir beigebracht, Fußball zu lieben, an mich selbst zu glauben und bis zum Ende zu kämpfen. Und ich möchte, dass all das auf dem Spielfeld weiterlebt, in jedem Sieg und jeder Niederlage. Denn Fußball ist nicht nur ein Spiel. Er ist ein Gedächtnis.“

Aus dem Russischen von Andreas Rüttenauer

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