Das Schicksal einer Missbrauchten: "Ich war seine Gummipuppe"
Warum viele Missbrauchsopfer erst Jahrzehnte später reden können: Rita Segbers wurde als Baby von der Mutter an Freier vermietet, als traumatisiertes Kind vom Therapeuten vergewaltigt.
Therapie? Nein. Wenn etwas klar war, dann das: nie mehr Therapie. Über 30 Jahre lang war das ihr Mantra. Therapie hat Rita Segbers* genug gehabt. Bei Dieter Meine*. Der war Kindertherapeut in ihrem Heim, irgendwo im Süden Deutschlands. Und sie war ein schwer traumatisiertes Kind. Ihre Mutter hatte Rita als Baby an Freier "vermietet". Das Jugendamt holte sie heraus: Krankenhaus, Heim, Pflegefamilie. Die Familie ist mit ihren Wutausbrüchen überfordert, mit dem Stehlen, mit den Folgeschäden ihrer Traumata. Mit sieben ist sie wieder im Heim. Damals, Ende der Sechziger, hat sie hartnäckig geschwiegen, im Heim, in der Therapie. Schweigen ist ihr Schutz. Auch zu Dieter Meines Taten hat sie Jahrzehnte geschwiegen.
Heute ist sie über 50 und will reden. Über die lange Zeit des Schweigens. Die Zeit, in der ihr Therapeut sie missbraucht hat.
Rita Segbers ist Kinderpflegerin von Beruf, sie ist hager mit hellgrauem, kurzem Haar. Um den Hals trägt sie ein Band mit einem schönen Stückchen Wurzelholz, in einer heilpädagogischen Tagesstätte kann man sie sich gut vorstellen. Aber dort arbeitet sie schon lange nicht mehr. Nicht mehr mit Kindern. Sie ist jetzt arbeitslos.
Strafrecht: Für Vergewaltigung sieht § 177 des Strafgesetzbuchs eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei und höchstens fünfzehn Jahren vor. Die Verjährungsfrist beträgt 20 Jahre. § 174 des Strafgesetzbuchs - "Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen" - bestraft sexuelle Handlungen an Personen unter 18 Jahren, die dem Täter oder der Täterin zur "Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut oder im Rahmen eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist", mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. § 174 c umfasst dabei speziell Personen, die in einem "Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnis" mit dem Opfer stehen, auch die psychotherapeutische Behandlung wird ausdrücklich genannt. Laut § 182 ("Sexueller Missbrauch von Jugendlichen") wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft, wer unter Ausnutzung einer Zwangslage sexuelle Handlungen an Personen unter 18 vornimmt. Die Verjährungsfrist beträgt hier fünf Jahre.
Zivilrecht: Die Verjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche auf Schadenersatz beträgt drei Jahre. Bei einer Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung setzt sie seit einer Gesetzesreform 2002 mit dem Ende des 21. Lebensjahrs ein.
Sozialrecht: Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) gibt Anspruch auf eine Beschädigtenrente, wenn jemand durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriff an der Gesundheit geschädigt wurde und deshalb erwerbsunfähig, hilflos oder pflegebedürftig ist.
Debatte: Diskutiert wird im Moment eine Verlängerung der Verjährungsfristen. Der Kinderschutzbund etwa fordert die Angleichung der zivilrechtlichen an die strafrechtlichen Fristen. Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) möchte auch die strafrechtliche Verjährung verlängern, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hält davon wenig. (oes /chr)
Dieter Meine war groß, bärtig und väterlich, ein gläubiger Christ, der sich der achtjährigen Rita annahm. Sie galt als extrem schwierig: Hospitalismus, Selbstverletzungen, Borderline wurden diagnostiziert und eine manisch-depressive Störung. Und vor allem eine große Weigerung. "Ich hab nie was gesagt." Zu den Gruppengesprächen ist sie nicht gegangen. Auch in der Einzeltherapie schwieg sie. Meine machte mit ihr in den Therapiestunden psychologische Tests, und dann spielten sie Schach. Sie wollte einfach nicht reden. Warum? Rita Segbers schweigt. "Das war einfach so", sagt sie dann.
Mit 16 macht sie eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Die praktische Erfahrung soll sie in Meines Familie sammeln. Sie beaufsichtigt die Kinder, führt den Hund aus, hilft im Haushalt. Die Kinder kommandieren sie herum, sie ist ja nur das Heimkind. Sie liebt den Hund. Sie sitzt bei Meines im Wohnzimmer und stopft für den väterlichen Therapeuten die Pfeife, fühlt sich ein bisschen geborgen. Eines Abends nach dem Fernsehen nimmt Meine ihre Hand und führt sie in seine Hose.
Rita ist sprachlos. "Entwicklungsmäßig war ich wie eine 12-Jährige", versucht sie ihr Erstarren zu erklären. "Ich spielte noch mit Puppen. Ich war überhaupt nicht aufgeklärt. Ich dachte: Muss ich da jetzt etwas lernen oder was?" Paralysiert sei sie gewesen, als der Mann sich mit ihrer Hand befriedigt, zum Schluss stellt er fest: "Das war schön." Sie sagt nichts, wie immer.
Der väterliche Freund. Die Pfeife. Der Hund. Der Einzige, den sie hat. Ihre Mitschülerinnen in der Ausbildung mögen sie nicht, sie ist Außenseiterin mit ihrer komischen Art. Im Heim "haben alle auf mir rumgehackt". Nur Meine ist da, der es "schön" findet, was er mit ihr macht. Wenig später vergewaltigt er sie zum ersten Mal. Sie wehrt sich nicht. Sie erstarrt stattdessen. Es passiert dann immer wieder. Sie ist ja fast immer bei ihm. Arbeitet in seinem Haus. Er sorgt dafür, dass sie zu ihnen zieht. Seine Frau ist dagegen, sie ahnt, dass da etwas Komisches im Gang ist. Aber mehr tut sie nicht. Er nimmt Rita im Auto mit zu seinem Kontrollanalytiker, zu dem er noch regelmäßig fährt. Und vergewaltigt sie im Auto.
Meine kennt ihre Jugendamtsakte. Rita kennt sie nicht. Meine offenbart ihr, dass ihre Mutter sie als Baby verkaufte. Dass die Mutter Prostituierte sei. "Das ist vererbbar, das hast du auch im Blut", erschreckt er das Mädchen. "Ich zeige dir, was man mit Prostituierten macht. Damit du weißt, wovor du dich hüten musst." Damit beginnt eine Serie des Sadismus. Der Hund kommt darin vor. Ein Pfannenstiel. Blut. Und eine Rita, die zu erkennen meint, dass ihre Mutter ihr einen "Nuttennamen" gegeben hat. Hat sie das im Blut? Ist sie damit schon schuldig geboren? "Manchmal hat er dann mit so einer Engelsstimme mit mir geredet, gerade wenn er mir wehtat. Ich glaube, er hat sich dann fast für Gott gehalten." Er stellt seine "Behandlung" als Therapie dar.
Warum hat sie das mitgemacht? "Das können Sie nicht verstehen, das weiß ich schon." Sie ringt nach Worten. "Ich habe gehungert nach Zuwendung. Jede Art der Zuwendung, ob Schläge, Vergewaltigung, das war für mich überlebensnotwendig. Wie Essen." Wenn Säuglinge keine Zuwendung bekommen, dann sterben sie, erklärt sie. So existenziell war der Hunger. Sie fühlt immer weniger. Ist innerlich nicht mehr anwesend. "Ich war seine Gummipuppe", sagt sie. "Ich mache dich fühlend", sagt der Therapeut und schleift sie an den Haaren durch die Wohnung. Nur leise soll sie sein, weil die Kinder schlafen.
Sie klaut den Wein aus dem Keller, betrinkt sich. Sie isst nicht mehr. Sie schlägt ihren Kopf gegen die Wand. Sie fingert mit Schraubenziehern in den Steckdosen herum, stellt sich extra auf einen nassen Lappen. "Ich kriegte eine gewischt, aber sonst nix", sagt sie mit schiefem Lächeln. Der Therapeut besorgt ihr Psychopharmaka, Valium. Dann wird sie schwanger. Plötzlich droht alles aufzufliegen, für eine Abtreibung müsste das Jugendamt informiert werden. Meine übernimmt die Vormundschaft und unterschreibt den Zettel selbst. Ab nach Holland.
Jetzt ist sie ganz in seiner Hand. Sie versucht, sich eine andere Ausbildungsstelle in Hamburg zu organisieren, als Tierpflegerin. Der Vormund telefoniert mit der Stelle und sagt ihr: "Die wollen dich nicht, die haben abgesagt."
Als sie 20 ist, hört es auf. Meine verlässt seine Frau, zieht mit der neuen Freundin weg, wird selbstständiger Kinderpsychologe. Seinem Opfer hatte er noch eine Stelle in einer Tagespflegestätte besorgt. Dort herrscht Rita. 18 Jahre lang. Ihre Wutausbrüche sind gefürchtet. Sie manipuliert die Kinder, wie Meine es ihr beibrachte: erst an die kurze Leine und dann ab und zu eine Vergünstigung. Dann sind sie einem ergeben. Die Angestellten wagen es nicht, sich zu beschweren.
In den Neunzigerjahren gerät Rita Segbers einmal derart in Wut, dass sie ein Kind zusammenschlägt. Die Anzeige kann sie abwenden, aber sie merkt: "Ich hätte den totschlagen können". Da war Schluss. Schluss mit den Kindern. Sie geht putzen. Jetzt versucht sie, mit Leuten aus ihrem alten Kinderheim Kontakt aufzunehmen. Habt ihr nichts gemerkt? "Doch, geahnt schon", gibt ein Mitarbeiter zu, "aber wir haben gedacht, du würdest sowieso nichts sagen, wenn wir dich fragen. Du hast doch nie was gesagt." Und: Sie soll es nicht so schwernehmen, sie käme doch jetzt gut klar im Leben.
Mehr als 30 Jahre Schweigen. Das ist schwer zu verstehen, aber nicht ungewöhnlich, sagt eine Mitarbeiterin der Beratungsstelle Wildwasser. Weil sie schon bedroht wurde, will sie namentlich nicht genannt werden. Die Täter suchten sich oft Menschen, die schon durch Übergriffe traumatisiert sind, erklärt sie. "Die Opfer konnten keine klaren Grenzen ausbilden, die sie gegen andere verteidigen könnten. Sie halten es für normal, dass andere sie missbrauchen, oft halten sie sich auch für schuldig", sagt die Sozialpädagogin. Wenn diese kindliche Wahrnehmung nicht korrigiert werde, dann kapsele sich das Opfer einfach ein: zu schrecklich, um an die Oberfläche zu gelangen. So komme es, dass viele Missbrauchsopfer erst Jahrzehnte später anfingen zu sprechen.
Auch Rita Segbers hatte sich eingerichtet in ihrem halben Leben. Keine Beziehung. Das hat sie mal versucht. Eine Affäre mit einem verheirateten Mann. Sie hat nicht klarbekommen, was man machen kann und darf und was nicht. Was sie darf, was er darf. Dass die ganze Affärensituation schon schuldbeladen ist. Dann hat sie es aufgegeben. Therapie? Nein. Was soll sie schon von Therapeuten erwarten.
Eines Tages, da war sie bereits über 50, ist Rita Segbers aufgewacht. Als bei ihrer Freundin so ein selbst ernannter Guru auftauchte, der auch so gut über alle Bescheid wusste und sie "heilen" wollte. Plötzlich war alles wieder da. Die Geschichte, aber auch diese manipulative Situation. Rita hat gemacht, dass sie wegkam. Gegen den Baum fahren. Oder doch Hilfe holen. Sie findet eine Beraterin, die sich mit Traumata auskennt.
Nach einem halben Jahr Arbeit ist sie so weit, dass sie Meine anzeigen will. Er praktiziert ja immer noch. Zu spät. Nach fast 40 Jahren ist das Ganze verjährt. Ob sie eine staatliche Opferentschädigung bekommt, damit sie ihre Therapie finanzieren kann? Abgelehnt. Sie sei ja schon vor der Tat psychisch krank gewesen. Da könne man nicht beweisen, dass die Tat sie krank gemacht habe. "Es ist also wieder mal erlaubt", braust Rita Segbers jetzt auf: "Es ist erlaubt!" Man ahnt, wie wütend sie werden kann. Aber mittlerweile richtet sie die Wut an die richtigen Adressen.
Rita Segbers findet die Verjährungsfristen lächerlich. Sie sollten verlängert werden. Gerade weil sie nicht die Einzige ist, die so lange schwieg. Die Wildwasser-Mitarbeiterin ist skeptischer: "Solche Gerichtsprozesse sind mit großen Hoffnungen verknüpft," gibt sie zu bedenken: "Die Realität sieht dann oft ganz anders aus." Keine Zeugen. Aussage gegen Aussage. Und eine Klägerin, deren Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen wird, weil sie psychisch krank ist.
Den Therapeuten, Dieter Meine, hat ihre Beraterin dann wenigstens angerufen. Kurz vor Weihnachten. Es meldete sich der Anrufbeantworter seiner neuen Frau, mit der Meine eine Gemeinschaftspraxis hat. Da hat sie alles draufgesprochen. Es kam keine Reaktion.
Aber Weihnachten, sagt Rita Segbers mit ihrem vorsichtigen Grinsen, Weihnachten war für die gelaufen.
*Namen und Orte geändert
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