Das Sauerteig-Tagebuch: Nur Mehl und Wasser? Von wegen!
Im dritten Lockdown fing unser Autor an, Brot zu backen. Ein Sauerteig-Nerd wollte er dabei nie werden. Protokoll einer klebrigen Leidenschaft.
8. August 2020
Es ist der heißeste Tag des Jahres. In der kühlen Küche eines alten Bauernhauses in der Eifel zeigt mir mein Bekannter Jean-Philippe ein dunkelbraunes Kastenbrot, schwer und saftig. „Selbstgebacken, mit Sauerteig“, sagt er und versucht zu kaschieren, wie stolz er darauf ist. Dumm, dass wir schon gegessen haben. Sauerteig also. Ich beschließe, mich zu informieren.
Einige Tage später
Das Internet hat viel zu sagen. Sauerteig ansetzen sei „kinderleicht“. Man braucht nur Wasser und Roggenmehl. Denke dann: Ich jogge schon mehr als vor der Pandemie und habe mit Yoga angefangen. Will ich jetzt wirklich das nächste Klischee bedienen? Vertage die Entscheidung.
13. Januar 2021
Der Lockdown light ist dunkel und kalt, die Covid-Variante B.1.1.7 steht vor der Tür. In einer Freundes-Chatgruppe beschließen wir, gleichzeitig Sauerteig anzusetzen. Das Rezept sagt: 100 ml Wasser und 100 g Roggenmehl vermischen und jeden Tag (zur gleichen Zeit!) genausoviel hinzufügen. Wir schicken uns Fotos von großen Messbechern, in denen das klebrige Gemisch darauf wartet, sich magisch zu verwandeln. Für eine konstant warme Temperatur lagern wir es im Backofen, nur das Licht eingeschaltet, die Tür einen Spalt auf.
15. Januar 2021
Nichts verwandelt sich. Wir sind ratlos und enttäuscht. Was ist falsch? Am dritten Tag entdecken wir die ersten Blasen im Teig.
18. Januar 2021
„Die ganze Küche riecht sauer!“, schreibt meine Freundin Rebekka (auch sauer). Upsi! Nach sechs Tagen Füttern ist der Sauerteig hellbraun und plötzlich sehr flüssig. Zu meiner Überraschung riecht er aber total gut, sehr gesund, fast wie ein grüner Apfel.
19. Januar 2021
Das erste Brot! Ich knete es von Hand: Sauerteig, Mehl (Roggen und Weizen), Salz, Wasser und Hefe (die kommt mit rein, weil ein junger Sauerteig allein erst noch zu schwach ist, sagt das Rezept). Nachdem der Teig geruht hat, folgt meine erste Begegnung mit merkwürdigem Bäckervokabular: Jetzt wird „rundgewirkt“. Der Teig wird dafür von außen nach innen gezogen und in Gänze gedreht. Das formt ihn rund und spannt die Oberfläche (YouTube-Anleitungen helfen). Auf dem von meinem Bruder geliehenen Pizzastein schiebe ich den runden Teigling in den heißen Ofen, in den man nun Wasser schütten muss („beschwaden“). Der Dampf im Ofen soll gut sein für die Kruste. Eine Stunde lang schaue ich auf dem Küchenboden sitzend in den Ofen hinein, rieche die Bäckereiluft und bin glücklich, dass das Brot immer mehr wie ein echtes Brot aussieht. Abgekühlt und aufgeschnitten schmeckt es auch wie eins.
Ende Januar 2021
Schnell stoße ich auf deutschsprachige Backblogs mit tollen Rezepten. Oft wird dort in komplizierter Sprache mächtig gefaktenhubert. Muss immer kichern, wenn ich mit wie selbstverständlich verwendetem Bäckereivokabular in Kontakt komme, „Retrogradation“, „freigeschoben Backen“, „Grundsauer“, „Autolyse“. Von wegen, „nur Mehl und Wasser“, Backen scheint eine Wissenschaft zu sein. Ich lerne erstmal den wichtigsten Begriff: Anstellgut (ASG). Das ist der Teil des Sauerteigs, den man übrig behält, um daraus später neue Sauerteige herzustellen. Das ASG muss man hegen und pflegen und zwischendurch mit Wasser und Mehl auffrischen.
Februar 2021
Mittlerweile backe ich ohne Hefe, der Sauerteig treibt die Brote allein. Wenn der Teigling „zur Gare liegt“ (= ruht/geht), entwickelt er nach ein, zwei Stunden eine marmorierte Oberfläche mit winzig kleinen Löchern drin, und alles riecht wie frischer Joghurt. Nur leider klebt der Teig fürchterlich! Obwohl ich inzwischen mit Mixer knete, muss ich danach meine Hände schrubben, die wegen der Pandemie sowieso am Limit sind (20 Sekunden Händewaschen, Sie erinnern sich?). Mein Kollege Paulus, der schon lange im Sauerteig-Game ist, weiß Rat: Am besten lässt sich der Teig mit den Netzverpackungen von Zitronen oder Kartoffeln entfernen. Funktioniert fantastisch. Ein echter Gamechanger!
4. März 2021
Zugegeben: Ein wichtiger Teil des Backens ist das Reden darüber. In der Chatgruppe bin ich der Einzige, der noch backt, und so texte ich auch Rebekka oft mit Sauerteigcontent voll. Weil sie weiß, dass Paulus ab und zu auch im Topf backt, schenkt sie mir zum Geburtstag einen orangenen Le-Creuset-Bräter (Tipp von ihr: Bei Kleinanzeigen „schwerer Topf“ suchen, soll sehr günstig gewesen sein). Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue.
April 2021
Ich backe und backe und backe. Habe mittlerweile auch Anstellgut aus Weizensauerteig gezüchtet und variiere die Rezepte. Die Brote werden meistens ganz gut, vor allem die aus dem Topf. Ich esse sie meist nur mit gesalzener Butter. Habe außerdem angefangen, Brote an Freund*innen zu verschicken. Die Reaktionen sind überwältigend. Das macht mich glücklich.
Mai 2021
Meine Bekannte Petra aus Kopenhagen backt dort in einer hippen Bäckerei spektakulär aussehende Sauerteigbrote. Ich schaue via Instagram zu. Sie ist Profi und beantwortet alle meine Fragen, außerdem empfiehlt sie ein Buch: „Das Brot“ von Chad Robertson. Dem „Kult-Bäcker“ aus L.A. bin ich online bereits begegnet. Er knetet den Teig für sein legendäres „Country Bread“ nicht, sondern dehnt und faltet ihn bloß und lässt ihn sehr lange garen. Ich bin verlockt, aber skeptisch. Bin doch kein Backnerd, der die Garzeit genau stoppt und dabei die Temperatur kontrolliert! Kaufe das Buch nicht.
5. Juli 2021
Die Infektionszahlen sinken. Es ist Sommer. Ich habe länger nicht gebacken und schon ein schlechtes Gewissen meinen diversen Anstellguten gegenüber, die in Gläsern im Kühlschrank lagern. Zurecht: Alle sind verschimmelt! Es schmerzt sehr. Fühle mich schuldig.
7. Juli 2021
Letzte Hoffnung: Mein Freund Steffen. Ich hatte ihm etwas von meinem Roggen-ASG abgegeben – aber er schreibt, es sei auch hinüber. Per Ferndiagnose via Foto erkenne ich, dass er nur mal umrühren muss, und, Tatsache: Es lebt noch! Steffen gibt mir einen Teil davon zurück, sodass ich technisch gesehen immer noch mein eigenes ASG aus dem Januar weiterführen kann. Glück gehabt.
3. August 2021
Im Campingurlaub in Frankreich – Steffen passt zuhause auf mein ASG auf – entdecke ich in einem pittoresken Örtchen im Zentralmassiv einen Markt mit vielleicht fünf Ständen. Hinter einem steht ein Müller, er verkauft T80, ein französisches Weizenmehl, ähnlich dem deutschen 550. Ich kaufe ihm zwei Kilo ab und bin der glücklichste Mensch des Tages. Wegen Mehl. Wer hätte das vor einem Jahr gedacht?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
22. August 2021
Jean-Philippe vielleicht! Er bringt mir unangekündigt ein dickes Buch mit: „Das Brot“ von Chad Robertson. Er brauche es die nächsten Wochen nicht. Ich schlage es auf und bin sofort hooked.
Einige Tage später
Country Bread also, los geht's. Ich führe den Teig exakt wie vorgeschrieben, kein Kneten, klar, sondern Autolyse, Hydration ist bei TA 175 für mich recht hoch. Obwohl sich der Teig kaum rundwirken lässt, so feucht, wie er ist – europäische Mehle nehmen weniger Wasser auf als die US-Mehle im Rezept, schreibt Petra –, ist das Ergebnis gut: Eine herrlich dunkle, krachende Kruste, sanfter Ausbund, und vor allem die Krume so locker wie nie. Im Buch steht, dass nicht nur die Garzeiten entscheidend sind, sondern auch die Frische des Mehls. Aha, aha! Paulus hatte mir eine Bio-Mühle in der Nähe empfohlen. Ich bestelle 10 Kilo. Man muss es ja nicht gleich übertreiben.
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