: „Das Sandmännchen ist da!“
■ betr.: „Zurück zum Nirgendwo“, taz vom 5.1. 98
Die Lossagungsrituale von dem mit „68“ verbundenen Emanzipationsstreben sind in der taz gar lustig anzuschauen. Nun also auch noch Luhmann! Die protestierenden Studenten, denen Reinhard Kahl diesen autopoietischen Titanen als Chefvordenker ans Herz legt, werden sich überlegen müssen, wie nichtidentisch sie eigentlich sein wollen. Durch Luhmanns Systembrille gesehen, müssen sie erkennen, daß sie als Handelnde irrelevant sind, sie sind nämlich System-Umwelt, und auch ihre intelligentesten „Choreographien“ (Kahl) allenfalls ein Rauschen fürs System.
Wichtiger ist noch ein zweites: die Rede vom Verlust des Zentrums. Zum einen ist damit (bei Luhmann) das Herrschaftszentrum gemeint, das seine Befugnisse an die autopoietischen Subsysteme verliert. Damit ließen sich viele gesellschaftliche Entwicklungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte gut beschreiben; aber was nun, wenn das System Wissenschaft gerade seiner „Eigenlogik“ beraubt und einer Marktlogik unterworfen wird? Das hier waltende Kommunikationsmedium heißt zunehmend Geld: ist das nun Heteropoiesis? Entdifferenzierung? Ferner: Das politische „Subsystem“ läßt das wissenschaftliche „Subsystem“ durch finanzielle Austrockung verrotten. Ist das etwa keine zentrale Steuerungs-„Leistung“? Dürfen sich die Studenten nicht mehr gegen die Liquidierung des Bafög- „Systems“ und der staatlichen Hochschulfinanzierung wehren, weil die Subsysteme ja systembedingt taub füreinander sein müssen? Ist es unabweisbare Systemlogik, wenn vom Funktionsverlust des politischen „Subsystems“ nicht etwa „die“ sonstigen Subsysteme „profitieren“, sondern präzis das ökonomische? Wenn also ein Zentrum recht eigentlich durch ein anderes abgelöst wird? Oder ist Herrschaft, die ökonomischer Logik folgt, netter? Vielleicht geprägt von Kahls „Freiheit zu etwas“? Erzählen Sie das mal einer mittelamerikanischen Blumenpflückerin!
Bei Kahl heißt das dann „Selbstorganisation“. Für ihn hat „Verlust des Zentrums“ noch eine zweite, emphatische Bedeutung: Er begrüßt den Verlust (das „Verdampfen“) zentraler leitender Ideen und Utopien, die ja „68“ kaum Gott oder Hierarchie hießen, sondern zum Beispiel Demokratisierung. Die 68er wollten keineswegs alle „das Zentrum besetzen“, wichtiger war der Wunsch, es zu zerstören oder wenigstens zu zähmen. Diese Aufgabe wäre heute dringender denn je. Ihre Lösung wird freilich nicht leichter, ist das Zentrum erst systemtheoretisch hinwegeskamotiert. Bei der dann noch möglichen „Selbstorganisation“ kann man nur alteuropäisch ausrufen: „Das Sandmännchen ist da!“ Rüdiger Haude, Aachen
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