: Das Rot schreit von der Wand
Eine Ausstellung der Hongkong-chinesischen Künstlerin Choi Yan-Chi in Berlin ■ Von Ulrich Clewing
Die Grenzen verschwinden im Sekundentakt. Mit jedem Blitz aus dem Stroboskop verschwinden sie ein bißchen mehr, denn die Landkarten in dem abgedunkelten Raum der Studio-Galerie des Hauses der Kulturen der Welt sind lichtempfindlich.
Staaten, Hauptstädte, Demarkationslinien – wenn die Ausstellung „Raumfarben“ endet, werden sie ausgelöscht sein. Und so ist die Installation „Invisible Boundaries“ eine in vielerlei Hinsicht zentrale Arbeit im Werk der Hongkong-Chinesin Choi Yan-Chi. Die Botschaft heißt: Grenzen sind zuallererst ein Problem der Wahrnehmung.
Mit der 44jährigen Choi Yan- Chi stellt das Berliner Haus der Kulturen der Welt eine Künstlerin vor, die zu den auffallendsten der englischen Kronkolonie gehört. Dabei ist vor allem die Vielfältigkeit verwirrend, in der sich ihre Arbeit über diverse Räume verteilt ausbreitet: zu sehen sind – einträchtig nebeneinander – Tafelbilder, Rauminstallationen, Videos, Performances und Wandmalerei.
Ihr Metier hat Choi Yan-Chi an der Akademie in Hongkong gelernt. Von dort wechselte sie Ende der sechziger Jahre nach Chicago, wo sie noch einmal sechs Jahre lang studierte, bevor sie 1975 wieder nach Hongkong zurückkehrte.
Nun wäre es ein leichtes, Choi Yan-Chis internationalen Stil auf ihre Chicagoer Zeit zurückzuführen. Doch spätestens seit der Ausstellung „China Avantgarde“, die im Frühling dieses Jahres am selben Ort rund vierzig Künstlerinnen und Künstler aus dem „Reich der Mitte“ präsentierte, ist deutlich geworden, daß chinesische KünstlerInnen sich zwar auch der im Westen üblichen Formensprache bedienen, das aber mit ganz eigener Sicherheit und Souveränität. Nix east meets west. Eher something else.
In einem zweiten der insgesamt vier Räume stehen vier bis an den Rand mit gelblichem Speiseöl gefüllte Tischvitrinen. Darin liegen offensichtlich willkürlich zusammengestellte Bücher. Paradoxerweise pumpt eine Apparatur in regelmäßigen Abständen Sauerstoff in die Glaskästen. Allmählich steigt beim Betrachten leiser Ekel empor.
Oben, auf den Schmalseiten der Rigipswände dieses Raumes, ruhen Goldfischgläser, mit hauchdünnen schwarzen Schleiern verhüllt. Dazu erklingt ein in seiner Einfachheit beinahe nervtötender Popsong aus Hongkong-Produktion. „Drowned“ – ertrunken – heißt dieses surreale Arrangement, was im Chinesischen, wie man im Katalog erfährt, auch soviel wie „Genuß“ oder „im Überfluß versinken“ bedeuten kann.
Bis auf einen weißen Sockel blutrot gestrichen ist der dritte Raum. In der Sockelzone hängen in rhythmischen Abständen gut drei Dutzend kleine Holztafeln. Zumeist sind sie abstrakt und betont schlierig bemalt, doch lassen sich dazwischen auch realistische Elemente entdecken, eine menschliche Figur, der Umriß eines Kopfes, eine Insel im Meer. Und immer und immer wieder schreit das Rot von der Wand. Merkwürdige Gegensätze sind es, die hier zusammenkommen, minimalistische Farbgestaltung und auf ihre Weise herkömmliche Tafelmalerei, ein überdimensioniertes Puzzle.
Dennoch, wer bei Choi Yan-Chi nach einer Mixtur der Kulturen sucht, sucht vergeblich. Eher ist die Vielfalt in ihrer Arbeit Ausdruck eines anarchischen Willens zum Experiment. Hält man sich vor Augen, daß das kulturelle Leben in Hongkong von einer konservativen, an der seit Jahrhunderten überlieferten Malerei interessierten Clique bestimmt ist, dann wird der Galopp durch die verschiedenen künstlerischen Stile zur Überlebensfrage in einem Umfeld funktionaler Kunst, die zur gepflegten Freihandelszone für High-Tech und Banken paßt.
Am ehesten der chinesischen Tradition verhaftet scheinen die 20 farbenfroh und heiter bemalten Holzplättchen mit dem schlichten Titel „1-20“. Die Kürzel, die hier auftauchen, mögen einen vielleicht entfernt an Kalligraphie erinnern. Aber schon im nächsten Augenblick wird dieser Eindruck wieder in Frage gestellt.
Chinesen, sagt ein weit verbreitetes Vorurteil, könnten nicht mit Farbe umgehen. Einmal mehr straft der Augenschein das Klischee Lügen.
Choi Yan-Chi: „Raumfarben“ ist noch bis 30.1.1994 im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen. Der Katalog zur Ausstellung ist in der Edition Cantz erschienen und kostet 14.80 DM.
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