■ Das Portrait: Gisela Wiese
„Von einem solchen Staat geht Gefahr aus.“ Gisela Wiese schrieb FreundInnen nach der Beobachtung des Prozesses gegen Ingrid Jakobsmeier 1993, daß sie sich im Gerichtssaal schäme. Es waren wieder schlechte Erfahrungen mit der bundesdeutschen Justiz. Seit 1967 begleitete sie mit einer Gruppe in Hamburg jüdische ZeugInnen, die aus aller Welt zu den NS-Prozessen eingeflogen wurden. „Wir erlebten Richter, die die SS-Täter in ihrem Selbstmitleid bestärkten und den Opfern mißtrauten“, empört sich die sonst ruhige Frau noch heute.
Gisela Wiese wächst in Berlin bei ihren Großeltern auf. Ihr Großvater wird als Richter zwangspensioniert. In einem Widerstandsnetz versorgt er jüdische Familien mit Lebensmitteln und bringt Kinder nach Holland. Die Enkelin wird erst spät eingeweiht. 1943 wird die Gruppe verraten, der Großvater und Freunde umgebracht. In den letzten Kriegstagen muß sie hilflos zuschauen, wie ein SS- Mann 14jährige flüchtende Flakhelfer erschießt, bevor er selbst türmt. Als die Nazis wieder auf die alten Posten in der Stadt kommen, verläßt sie Berlin. Seit den NS-Prozessen ist sie politisch aktiv, „hofft, mischt sich ein, ist unbequem“.
Friedensaktivistin Foto: Archiv
„Das Zusammensein mit den Opfern, die uns aufnahmen und uns vom Grauen, aber auch von Menschlichkeit berichteten, die sie erlebt hatten, hat mir sehr viel Kraft gegeben.“ Die weißhaarige Frau, die tagsüber einen Kindergarten leitete, bedrängte abends wütend Militärs bei Podiumsdiskussionen, sie initiierte Gedenkveranstaltungen, gründete das Auschwitz- Komitee mit, beobachtet die politischen Prozesse gegen Angeklagte aus der Hafenstraßen-Szene und besucht Gefangene in der Haftanstalt Santa Fu. Auf Demos findet man sie unter einem Pax- Christi-Transparent. 1990 wurde sie als Vizepräsidentin der katholischen Friedensbewegung gewählt. Sie ist überzeugte Christin seit ihrer Kindheit. Aber Auschwitz habe ihren Glauben verändert. Sie könne, meint sie nachdenklich, nur an den mitleidenden Gott glauben. Versöhnung als Erinnerung und Solidarität, das ist die Wurzel ihres Handelns. Die Vergangenheit aufzuarbeiten, der ausgrenzenden Nationalitätsideologie zu begegnen und „uns an die Seite der Opfer, der Flüchtlinge, der Gefangenen zu stellen“, sind für sie die wichtigsten Aufgaben. Zu ihrem 70. Geburtstag am Sonntag besuchte sie die Eltern von Ingrid Jakobsmeier. „Nächstes Jahr muß Ingrid auch dabei sein“, sagt sie. Wilfried Köpke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen