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Das PortraitEine Epoche zu spät

■ Der Nobelpreis für Kenzaburo Oe

Wieder einmal lagen alle Prognosen, auch die der taz, um einige Kontinente daneben: Stände nicht die Wiege der modernen Literatur in Japan, wo Hofdamen bereits Liebesromane dichteten, als bei uns nicht einmal die Bibel bekannt war, wer würde seine Überraschung noch verbergen angesichts des neuen Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe (59)? Wie hierzulande Günter Grass oder Heinrich Böll mag er in Japan das literarische Nachkriegsgewissen verkörpern, doch wer interessiert sich heute noch für seine Werke zwischen Moderne und Mystik, zwischen westlicher Rationalität und altem Samurai-Denken? Nicht einmal die Japaner.

„Heutzutage stehen alle Literaturzeitschriften in den roten Zahlen“, schreibt Kenzaburo Oe Ende der achtziger Jahre über seine Zunft in Japan. Dabei stellt er fest, daß zwei junge japanische Autoren, Murakami Haruki und Yoshimoto Banana, die auch bei vielen Deutschen heute bekannter sind als der jetzt in Stockholm gekürte Altmeister, inzwischen mehr Bücher verkaufen als alle anderen japanischen Autoren zusammen. „Die Nachkriegsliteratur setzte sich mit der Geschichte der Gegenwart auseinander“, seufzt Oe. „Murakami und Yoshimoto hingegen beschreiben das Leben von politisch desinteressierten Teens und Twens.“

So war es denn mehr als Höflichkeit gegenüber seinen japanischen Kollegen, als Kenzaburo Oe gestern vor die Fernsehkameras trat und seinen Stolz verkündete, daß „die japanische Literatur den Nobelpreis gewonnen hat“. Damit meint Oe seine Generation, nicht die Autoren von heute, deren „Subkultur“ er nicht von Comics und Groschenromanen zu unterscheiden vermag. Mit ihnen verteufelt er sogar das japanische Wirtschaftswunder: „Auf dem Gebiet der Literatur zeigte sich der japanische Wirtschaftsaufschwung also lediglich in den Absatzzahlen der Werke dieser beiden jungen Autoren [Haruki und Yoshimoto, G.B.].“ Aber auch Oe, der vor allem in der Öffentlichkeit so bissig und kompromißlos sein kann wie Grass, lebt vom japanischen Wirtschaftserfolg, indem er ihn moralisch bekämpft. Hiroshima und Okinawa, dort wo der Krieg in Japan am schlimmsten wütete, sind seine historischen Bezugspunkte, verkörpern für ihn die ständige Gefahr der Katastrophe, die über seinen Anfangswerken liegt. Er stellt sich quer gegen die Toyota-Gesellschaft, er glaubt auch nicht an das vom Wirtschaftsministerium Miti verkündete Informationszeitalter.

„Warum protestiert Kenzaburo Oe und leistet Widerstand?“ fragt der Philosoph und Literaturkritiker Shuichi Kato. „Er ist kein politischer Kritiker und auch kein Revolutionär wie seine marxistischen Kollegen. In phantasievollen Erzählungen, die von Rabelais bis zu den Hippies reichen, macht er seine Ablehnung des Wertesystems deutlich, das die etablierte Gesellschaft aufrechterhält. Auf welche Werte aber gründet er seine Ablehnung?“ fragt Kato noch einmal. „Vielleicht auf Frieden, Natur und die Zärtlichkeit der Lebewesen.“

Kato kennt Oe gut, und mit seiner Anspielung auf die Zärtlichkeit will er wohl die Antwort seines Freundes auf sein vielleicht bestimmendes, schicksalhaftes Erlebnis andeuten: Hikari ist sein Name, zu deutsch: Licht. So heißt Oes geistig und körperlich schwerbehinderter erster Sohn. „Um mich ohne Selbstbetrug dem Monster von Baby zu stellen, statt vor ihm davonzulaufen, habe ich nur diese beiden Möglichkeiten: entweder ich erwürge es mit meinen eigenen Händen, oder aber ich akzeptiere es und ziehe es groß.“ Zum Glück entschied sich Oe dafür, Hikari am Leben zu lassen. Denn auch von der Liebe zu Monstern handeln seine Romane, wobei sich Oe das Happy-End für das Leben aufbewahrte: Hikari ist heute 31 und hat gerade mit Hilfe des Vaters seine zweite CD aufgenommen – klassische Töne mit den genialen Einfällen desjenigen, der zwei Jahrzehnte nur den Vögeln und nicht den Menschen lauschte. So tiefgehend empfindet Oe heute diese Musik seines Sohnes, daß er selbst mit dem Schreiben aufhören will: „Was heißt es, wenn die Kunst immer weiter in den Künstler eindringt? Vielleicht entdeckt man dann nur die große Traurigkeit der eigenen Seele“, schrieb Kenzaburo Oe vergangenen Monat fürs Konzertprogramm von Hikari.

Spät entdeckt ihn jetzt die Welt, zu spät, wie schon den ersten japanischen Nobelpreisträger Yasunari Kawabata im Jahr 1968 – jeweils um eine Epoche der japanischen Literatur versetzt. Georg Blume

Zur Zeit sind von Kenzaburo Oe auf deutsch „Die Brüder Nedokoro“ (S. Fischer), „Eine persönliche Erfahrung“ (Suhrkamp) und „Verwandte des Lebens“ (Edition Q) lieferbar.

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