Das Portrait: Volksmusiker des Wirtschaftswunders
■ Tony Marshall
Bis zu seinem 33. Lebensjahr war er kaum mehr als ein Sänger, der gerade seinen ersten Plattenvertrag abgeschlossen hatte und beim schallplattenkaufenden Volk nicht so recht landete. Dann kam der Produzent Jack White (alias Horst Nussbaum), der aus seiner früheren Zeit als Fußballprofi von den Schunkelgelüsten des Volkes wußte – und gab dem Mann eine Chance.
Herbert Anton Hilger (besser bekannt unter: Tony Marshall) hieß der Typ. Er mäkelte ziemlich an Whites Liedvorschlag herum: Das sei doch kein Song für einen, der klassischen Gesang studiert hatte und eigentlich in die Oper wechseln wollte. Doch der Produzent wußte, daß Marshall keine Wahl hatte. Für Bayreuth hatte es bei Tony nicht gereicht, für die Operette wiederum war er mit seinen minipliähnlichen Locken, der bäuerlichen Knubbelnase und der Aura eines Kaffeefahrtenanimateurs nicht schön genug.
Also fügte sich Marshall – und machte mit dem Stück sehr viel Geld, nach eigener Aussage „mehr, als ich mit der Oper je verdient hätte“. Die Rede ist vom Sommerhit des Jahres 1971: „Schöne Maid“, ein Grölschlager, der sich seine Melodie von einer Weise aus der Südsee abgekupfert hatte. Tony Marshall war plötzlich der deutsche Stimmungssänger, ein Volkstümler par excellence. Er gilt den einen als „Fröhlichmacher der Nation“, den anderen als Vorsänger des rasenden Spießertums. Ironisiert wurde er bis dato nie – selbst die Punk- und Trashgeneration hat die Finger von ihm gelassen.
Den gebürtigen Baden- Badener, Kaufmannssproß und selber aushilfsweise schon mal Casinocroupier, würde auch eine Parodie nicht erschüttern können. Er wirkt, als wolle er die Nonchalance der Wirtschaftswunder-Gesellschaft singend bewahren und als könne er mit seiner selbstgewissen Munterkeit alle Anfechtungen von sich abperlen lassen.
Einmal hat Tony Marshall versucht, aus dem Rollenkorsett auszubrechen. Das war 1976, als er mit dem schwülstigen Titel „Der Star“ sein Land beim „Grand Prix d'Eurovision“ vertreten wollte. Den Vorentscheid gewann er locker. Doch ein Konkurrent petzte, daß Marshalls Lied bereits einmal öffentlich vor dem Wettbewerb gespielt worden war. Marshall wurde disqualifiziert – und trällerte bevorzugt bei Galas – „Komm, gib mir Deine Hand“ oder „Junge, die Welt ist schön“. Heute wird Tony Marshall 60 Jahre. JaF
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