Das Portrait: Versoffener Schlapphut
Hansjoachim Tiedge
Vor fast 15 Jahren sorgte Hansjoachim Tiedge für einen der größten Spio–nageskandale der Republik: Der Chef des Bereichs DDR-Spionageabwehr beim Bundesamt für Verfassungsschutz war im August 1985 nach Ostberlin übergelaufen. Ausgerechnet in die DDR, für die er beim Verfassungsschutz zuständig war. „Aus einer für mich ausweglosen persönlichen Situation, aber aus freien Stücken und aufgrund meiner eigenen Entscheidung“, schrieb der frühere Regierungsdirektor fünf Tage nach seinem Überlaufen in einer „Erklärung“, die der Ostberliner Anwalt Wolfgang Vogel an die Bundesregierung übermittelte.
Eine genauere Begründung gab Tiedge nicht. Sein Seitenwechsel löste in den bundesdeutschen Geheimdiensten ein Erdbeben aus: Den damaligen BND-Präsidenten Heribert Hellenbroich kostete Tiedges Flucht das Amt. Er war vorher im Bundesamt für Verfassungsschutz jahrelang Chef und Mentor des alkoholkranken und völlig verschuldeten Tiedge gewesen.
Der Verfassungsschutz traf zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen, damit Tiedge nicht noch mehr als ohnehin verraten konnte. Denn wie erwartet hatte Tiedge in der DDR munter geplaudert. Seinen ersten Abend mit Stasi-Offizieren schilderte er wie folgt: „Mein Akoholkonsum an diesem Abend ist mit Sicherheit in die Analen des Ministeriums für Staatssicherheit eingegangen.“ 16 Halbliterflaschen Bier und eineinhalb Halbliterflaschen Wodka will er konsumiert haben, während er über den Verfassungschutz auspackte.
Dann wurde es still um ihn. In Ostberlin schrieb er seine Dissertation über den westdeutschen Inlandsgeheimdienst und nannte sich fortan Dr. Fischer. Nach dem Fall der Mauer setzte er sich nach Moskau ab. Dort lebt er und hat seine Memoiren geschrieben, deren Verleger seit gestern wegen Beihilfe zu Geheimnisverrat und des Verrats von Dienstgeheimnissen vor Gericht stehen.
Denn in seiner „Lebensbeichte“ schildert Tiedge Arbeitsweise und Struktur des Verfassungsschutzes und nennt Namen von Geheimdienstlern. Nach Meinung der Verteidigung waren dies zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung aber schon lange keine Geheimnisse mehr. Schließlich standen die Memoiren im Internet, bevor sie als Buch herauskamen. Tiedge lässt das alles unberührt. Er will nicht nach Deutschland zurückkehren. Auch nicht nach 2005, wenn sein Landesverrat verjährt ist. Karin Nink
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen