piwik no script img

Das Pittsburgher Protokoll

US-Transplantationszentrum sucht nach neuen Wegen, um mehr Organspenden zu erhalten  ■ Aus Pittsburgh Ute Bertrand

Die Schlagzeile vom Transplantationsrekord lief um die ganze Welt: „Ärzte pflanzten Mädchen sieben fremde Organe auf einmal ein“. Im September war die kleine Laura Davies operiert worden. Nur zwei Monate später ist sie gestorben.

Abseits solcher spektakulären Ereignisse geht in der Transplantationshochburg Pittsburgh im US- Bundesstaat Pennsylvania der Alltag weiter. Durchschnittlich alle 18 Stunden pflanzen Ärzte dort einem Menschen ein fremdes Organ ein. Und die Branche will weiter expandieren. Allein die Organe fehlen. Mehr als 31.000 Menschen stehen dort auf der Liste der nationalen Organverteilungsstelle, dem United Network of Organ Sharing. Sie warten auf das passende Körperstück. Die Medizinethiker der Pittsburgher Uni-Klinik haben ihren eigenen Weg aus der hausgemachten Krise gesucht und gefunden: Mit Hilfe einer neuen Ethikleitlinie, dem „Pittsburgher Protokoll“, wollen sie den Kreis potentieller Organspender beträchtlich erweitern. Demnach dürfen zusätzlich zu Menschen mit der Diagnose Hirntod auch den sogenannten „Herztoten“ Organe entnommen werden – und zwar bereits nach zweiminütigem Herzstillstand.

Seit den siebziger Jahren ist es in den USA wie in Deutschland gängig, sogenannten Hirntoten Leber, Herz und Nieren lebensfrisch herauszuschneiden, um sie anderen Menschen einzupflanzen. Aber die Zahl dieser Patienten ist begrenzt; das Interesse, mehr zu transplantieren, hingegen groß. Die Pittsburgher Leitlinie nimmt nun Menschen ins Visier, die im Fachjargon NHBCDs genannt werden. Die Abkürzung steht für non-heart- beating cadaver donors, Organspenderleichen also, deren Herz nicht mehr schlägt. Bei Sterbenden dieser Kategorie ist allerdings besondere Eile geboten. Denn anders als bei Hirntoten bricht im Falle des Herzversagens der gesamte Kreislauf zusammen. Werden die Organe nicht schnell „abgeerntet“, wie die US-Mediziner sagen, sind sie durch Körperwärme und Sauerstoffmangel so stark geschädigt, daß sie sich für die Transplantation nicht mehr eignen. Wann der Sterbeprozeß frühestens unterbrochen werden darf, ist jedoch umstritten. Das Pittsburgher Protokoll richtet sich daher gezielt an Menschen, die sterben wollen; an Lebensmüde, die nicht mehr mit Maschinen und Medikamenten am Leben gehalten werden möchten. Das Protokoll schreibt folgenden Ablauf vor: Der Patient oder einer seiner Angehörigen informiert den zuständigen Arzt zunächst, daß er keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr wünsche und anschließend, daß er Organe spenden wolle. Nach Konsultation des Ethikbeauftragten führt ein Arzt den „geplanten kontrollierten Tod“ herbei, indem er zum vereinbarten Zeitpunkt alle lebenserhaltenden Maßnahmen wie Beatmungsmaschine, Herzpumpe oder Medikamente stoppt. Dann warten die Mediziner zwei Minuten, ob das Herz von allein zu schlagen beginnt. Rührt es sich nicht, gilt der Patient als tot. Die Operation kann beginnen. Zwar gibt es keine Studien, die belegen, daß Menschen, deren Herz zwei Minuten stillgestanden hat, tatsächlich tot sind; zwar könnte man diese Sterbenden innerhalb dieser zwei Minuten wiederbeleben oder das angeblich tote Herz in einen fremden Körper transplantieren, wo es normal weiterschlagen würde – doch die Pittsburgher Medizinethiker beharren auf ihrer funktionalen Zwei-Minuten-Herztod-Definition.

Bedenken, Sterbende würden in den Tod getrieben, um ihre Organe für die Transplantation zu retten, versucht das Protokoll zu zerstreuen. So müsse die Entscheidung, sterben zu wollen, aus freien Stücken vom potentiellen Toten oder von einem der Angehörigen geäußert werden und völlig unabhängig sein vom Willen zur Organabgabe; Medikamente, die ebenso geeignet sind, das Sterben angenehmer zu machen wie auch den Tod schneller herbeizuführen, dürften die Mediziner ausschließlich bei Schmerzen verabreichen.

Schon seit 1975 ist es in den Pittsburgher Uni-Kliniken erlaubt, medizinische Behandlungen einzustellen. Vorausgesetzt: Die Belastungen der Behandlung sind größer als die Vorteile für den Patienten. Wie aber läßt sich formal garantieren, daß die bioethische Güterabwägung nicht erweitert wird und die Interessen derjenigen Menschen in die Rechnung miteinbezogen werden, die auf ein Organ warten? Für die Ethiker heißt der naheliegende Ausweg: mehr Freiwillige für die Organspende! Deshalb begrüßen sie die Kampagnen pro Organspende, an denen man in Pittsburgh schon heute nicht mehr vorbeikommt. Pittsburgh lebt von den Organtransplantationen. Rund 20.000 Menschen arbeiten auf der Medizinmeile im Stadtteil Oakland. In den Bussen werden Passagiere aufgefordert: „Do your part – sign your donor card!“ (Steuere deinen Teil dazu bei – Unterschreib deinen Organspendeausweis!) Von Plakaten blickt ein schwarzer Junge. „Ich warte schon sechs Monate.“ Make a gift of Life!“ – Schenke Leben!

Protokolle wie das Pittsburgher dienen dazu, Tabus zu brechen. Feinsäuberlich listen Ethikexperten alle angeblich relevanten Interessenkonflikte auf – so, als gäbe es auf dieser Welt kein Dilemma, das mit Expertenhilfe nicht optimal zu lösen wäre. Längst haben Gesundheitsökonomen Indizes zur Berechnung von Lebensqualität aufgestellt, mit denen sich angeblich gerecht Lebenschancen zuweisen lassen. Sie wollen die Rationierung medizinischer Leistungen legitimieren, indem sie festlegen, bei wem sich eine teure Behandlung lohnt und bei wem nicht. Der Druck wächst – besonders auf Kranke, Behinderte und Alleinstehende. „Make a gift of life!“ – Schenke Leben!

Unlautere moralische Appelle an christliche Nächstenliebe verbinden sich mit Vernunftsargumenten. Utilitaristisch gedacht, wäre es nicht zynisch, sondern rational, die Organe aller Menschen per Computer zu erfassen und so zu verteilen, daß sie möglichst vielen maximales Glück, sprich optimale Lebensqualitätsausbeute brächten. Dann fehlte nur noch die hochkarätig besetzte Ethikrunde, um einem solchen Management der Bio-Ressourcen ihren Segen zu geben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen