Das Netz des Berliner Neonazi-Terrors

Weltweit verbunden rüsten Neonazis zum bewaffneten Kampf. Auch in Deutschland. Einem von ihnen, Kai Diesner, wird jetzt der Prozeß gemacht. Der Berliner war vor den Attentaten fest mit dem rechten Milieu verbunden  ■ Von Burkhard Schröder

Wer in Berlin Kontakt zu Amokläufern, Bombenattentätern oder Messerstechern suchte, fuhr nach Wedding in die Osloer Straße. Hier wohnte bis zu seiner Verhaftung Arnulf-Winfried Priem, einer der wichtigsten Neonazi-Anführer Deutschlands. Er sitzt seit zwei Jahren im Gefängnis, wegen „Bildung eines bewaffneten Haufens“ und anderer Delikte.

Priem spielt seit Jahren in der Szene den geistigen Übervater, wenn es um die krude Mischung aus Esoterik und neonazistischen Ideen geht. Am 13. August 1994 stürmte die Polizei wieder einmal Priems Domizil. Sie nahm eine Reihe von Neonazis fest, die sich dort verbarrikadiert hatten, um sich gegen den nur vermuteten Angriff von Antifaschisten zu verteidigen. Die Beamten stellten 200 Gramm Sprengstoff, Molotowcocktails und ein umfangreiches Arsenal von Waffen und waffenähnlicher Gegenstände sicher.

Unter den zwanzig Männern, die Priem um sich geschart hatte, war Detlef Nolde, der im April dieses Jahres dem Berliner Lutz Schillock assistierte, als dieser zwei braune Kameraden aus Wittenberg mit einem Messer nach einem Polterabend tötete. Auch Kai Diesner saß an jenem Tag vor drei Jahren in Priems Wohnung.

Diesen Freitag wird das Landgericht Lübeck gegen Diesner verhandeln. Er ist angeklagt wegen Mordes in Tateinheit eines versuchten Mordes und versuchten Mordes in einem weiteren Fall. Diesner schoß am 19. Februar mit einer abgesägten Schrotflinte auf den Berliner Buchhändler Klaus Baltruschat. Sein linker Unterarm und zwei Finger an der rechten Hand mußten amputiert werden. Vier Tage später, auf einer Autobahnraststätte bei Lauenburg, zog er ohne Vorwarnung das Gewehr und erschoß den Polizisten Stefan Grage und verletzte dessen Kollegen schwer.

Der gelegentliche Amoklauf ist potentiell im weltanschaulichen Programm der „Nationalsozialisten“ enthalten. Zwar distanzieren sich die Drahtzieher der Szene regelmäßig von denen, die zu den Waffen greifen und das praktizieren, was sie zuvor gelernt haben. Trotzdem sind sie die Verantwortlichen: Die Amokläufer haben bei anderen denken lassen und weiten ihre individuelle Katastrophe und Ausweglosigkeit des politischen Lebensentwurfes auf andere aus. Der Amokläufer bleibt sich bis zum Untergang nibelungentreu. Das hat sektiererische Züge: das übermächtige Böse (der Staat, die Justiz), das eindeutig erkannte Ziel (im Zweifelsfall die Weltherrschaft), der Führer, die kleine, verschworene Gemeinschaft mit esoterischem Wissen. Ihnen gegenüber stehen die vielen Uneinsichtigen. Sie sind selbst schuld daran, von der guten Sache nicht überzeugt zu sein. Sie haben die Folgen zu tragen. Und bist du weltanschaulich nicht willig, so brauche ich Gewalt. So mag sich das Diesner in seinem kruden politischen Verfolgungswahn gedacht haben.

Nationalsozialismus, das Verhalten gegenüber Polizei und Justiz und Waffenkunde lernte Diesner, heute 24 Jahre alt, beim ehemaligen „Führer“ des Ostens, Ingo Hasselbach, in dessen Kampfgruppe „Sozialrevolutionäre Nationalisten“. Für die esoterische und neuheidnische Unterfütterung war Arnulf-Winfried Priem zuständig. Einmal pro Woche erschien Diesner seit 1991 im Wedding, um sich in Germanenkunde unterweisen zu lassen. Priem ist spezialisiert darauf, Jugendliche mit antisemitischen Verschwörungstheorien und Rassenwahn auf den rechten Weg zu bringen.

Priem wurde von niemandem zu einem „Führer“ oder „Kader“ ernannt. Wer sich aber schon seit über 30 Jahren offen zum Nationalsozialismus bekennt und einschlägig aktiv ist, hat einen Überblick über das gesamte Personal der ultrarechten Szene. Der langhaarige Neonazi kokettiert gern mit Militärkleidung, Totenkopf- Stirnband und „I love Eva Braun“- Button. Priem, geboren 1950, gelernter Industriekaufmann, stammt aus Berlin-Adlershof, saß in der DDR wegen „Unzucht“ und „staatsfeindlicher Propaganda“ ein und wurde vom Westen 1968 freigekauft. Priem machte im Westen weiter, wo er im Osten aufgehört hatte. Er wurde Landtagskandidat der NPD, Mitglied der DVU und gründete in Freiburg die neonazistische „Kampfgruppe Priem“, die 1978, nach seinem Umzug nach Berlin, dort sogar im Telefonbuch zu finden war.

Priem unterrichtete die Neuheiden

Für viele Ost-Nazis wurde Priem eine Art Vaterfigur: Er galt als einer der ihren, hatte schon zu DDR- Zeiten die westliche Dekadenz in Form der „Rolling Stones“ und die SS-Runen auf seinen Arm tätowiert und setzte sich auch sonst über fast jedes gesellschaftliche Tabu hinweg. Seine Wohnung war Anlaufstelle für Militaria-Fetischisten wie Bendix Wendt, der im Beisein des Autors das Rohr einer Wehrmachtspanzerfaust auf Priems Wohnzimmertisch knallte, die er in den Wäldern Brandenburgs ausgebuddelt hatte. Im braunen Sumpf der Hauptstadt stritt man sich darüber, ob es „Grabschändung“ sei, die Orden der Soldaten auf den „Heldenfriedhöfen“ aus den Urnen zu klauen – was Priem vorgeworfen wurde.

Als Einstiegsdroge für die neonazistische Szene bot Priem die Kombination aus neuheidnischer Esoterik und Waffen – eine brisante Mischung, die seit zwanzig Jahren immer wieder einschlägige Straftaten nach sich zieht. Schon 1979 stellte die Polizei in seiner Wohnung ein Maschinengewehr sicher. Im September 1982 verübten zwei Männer einen Sprengstoffanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus in der Weddinger Bellermannstraße. Vor Gericht sagten sie aus, sie hätten sich über die „Kampfgruppe Priem“ kennengelernt. Die „Kampfgruppe“ nannte sich später „Wotans Volk“ und ist, laut Priem, Teil des neuheidnischen „Asgard-Bundes“.

In diesem völkischen Zirkel lassen sich künftige Nazis über die „Rassentypen des deutschen Volkes“ schulen. Priem fungierte als Herausgeber des „Nordisch-Germanischen Jahrweisers“ und dilettierte wie sein Vorbild Adolf Hitler in den schönen Künsten. Während eines Gefängnisaufenthaltes schrieb er einen schaurigen Roman über die alten Germanen.

Für die Schulungen in seiner Wohnung wurden externe „Dozenten“ wie der Neonazi Michael Pflanz engagiert. Der traktierte schon 1983 Berliner Skinheads mit Vorträgen über „Bedeutung und Wesen der Frau im Heidentum“ und „Nachrichten über die Goten, Vandalen und Langobarden“. Neben den Juden galt das Christentum als Hauptfeind. Motto des Neuheidentums: Der arische Übermensch wird von minderen Rassen fortwährend bedroht und muß sich, notfalls mit Gewalt, dagegen wehren. Kein Wunder, daß sich schlichte Gemüter wie Kai Diesner davon angesprochen fühlen – „Weißer arischer Widerstand“ ist eines der Lieblingslogos der Neonazi-Szene.

Priems weltanschauliche Groupies suchten häufig weniger den organisierten Neonazismus als die Legitimation ihrer Lebenshaltung, einer Welt von Feinden gegenüberzustehen. Unterordnung oder Feindschaft – alles andere ist von Übel. Die Nebenwirkungen der verquasten Ideologie: Gewalt und Waffen sind Prophylaxe – sie werden eingesetzt, weil ja eh nichts anderes mehr hilft, damit die anderem einem nicht zuvorkommen.

Der Polizistenmörder Diesner ist auf seinen Mentor Priem nicht mehr gut zu sprechen, weil Priem sich während seiner letzten Gerichtsverhandlung nicht offen zum Nationalsozialismus bekannt hat. Diesner nennt Priem nur noch „Hühnerficker“.

Dieses paranoide Lebensgefühl äußert sich nicht nur in politischen Taten. In der Silvesternacht 1985 wurde Ulrich Jahnke, Chef der Berliner Grundkreditbank, erschossen. Vier Männer wollten ihn in seiner Villa berauben. Einer der jugendlichen Täter, Frank Ch., galt als Waffennarr und hatte schon bei Schießübungen auf dem Anhalter Bahnhof einen Polizeihund getötet und den Hundeführer verletzt. Während des Prozesses stellte sich heraus, daß der Jungnazi Ch. zuvor eine Rentnerin überfallen und so fest geknebelt hatte, daß die Frau erstickte. Ch. war Mitglied des „Freizeitvereins Wotans Volk“.

Seit den achtziger Jahren pilgerten Neonazis nach Berlin, um sich aus Priems umfangreicher Bibliothek nazistisches und esoterisches Schrifttum auszuleihen. Das hatte sich schon bald im Osten herumgesprochen, weil einer der engen Vertrauten Priems, Andreas Pohle, später einer der Chefs der „Nationalistischen Front“, gute Kontakte zu Hooligans des FC Dynamo pflegte.

Auch Waffen waren im Wedding immer zu haben. Priem hat einschlägige und allerbeste Verbindungen. Schon 1986 wurde einer seiner Kontaktmänner, ein Kreuzberger Ladenbesitzer, festgenommen, der einem Interessenten aus der ultrarechten Szene eine Maschinenpistole verkauft hatte. Die Polizei fand bei Priems Lieferanten Waffen im Wert von über 40.000 Mark.

Waffen wurden nach der Wende in Mengen gekauft

Ab 1990 blühte das Geschäft erst recht auf: Ein polnischer Autohändler aus Kreuzberg verschaffte den Neonazis alles, was sie benötigten: Nebelkerzen, Pistolen, Übungshandgranaten. Die Waffen wurden in einer Kneipe an der U-Bahn-Station Mehringdamm übergeben, Mittelsmann war der ausgestiegene Ostberliner Neonazi Ingo Hasselbach.

Priem gehörte zu den Käufern, einer seiner engsten Freunde, der Terrorist Ekkehard Weil, orderte Sprengzünder. Auf das Konto Weils gehen auch ein Mordanschlag auf einen russischen Soldaten, Brandstiftung, Körperverletzung, ein Bombenanschlag auf die Parteizentrale der SEW in Westberlin, ein Bombenanschlag auf ein jüdisches Kaufhaus in Wien und auf das Wohnhaus von Simon Wiesenthal. Die Freundinnen der Jungfaschos aus Berlin- Lichtenberg durften Weil die Butterbrote schmieren, als er geruhte, 1991 in dem von Nazis bewohnten Haus in der Weitlingstraße den Bau von Molotowcocktails zu überwachen.

Damals wurden die Kontakte geknüpft, die den braunen Nachwuchs wie den Polizistenmörder Diesner in die Szene einbanden. Der Neonazi Sven Bieber aus Berlin-Reinickendorf verkehrte ebenfalls im Dunstkreis von Priem und handelte mit Waffen. Bieber ging während eines Fußballspiels in Prag mit einem Messer auf einen Polizisten los. Er ist dort zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Wegen der Waffendeals sitzt noch niemand hinter Gittern, die Berliner Staatsanwaltschaft müht sich seit langem um eine Anklageschrift. Mit von der Partie sind auch der Neonazi und Kroatien- Söldner Oliver Schweigert, ein langjähriger Vertrauter Priems, sowie der ehemalige Chef der neonazistischen „Nationalen Alternative“, Frank Lutz. Es gibt Probleme, den eigentlichen Drahtziehern etwas nachzuweisen.

Neben Priem gilt der Neonazi Andreas T. als Vertrauter des Polizistenmörders Diesner. Diesem gab er am Tag vor dem Attentat auf Klaus Baltruschat sein Handy mit dem Hinweis, das brauche er jetzt nicht mehr.

Daß die Wohnung Priems verwaist ist, tut dem Zusammenhalt der Szene keinen Abbruch. Die zukünftigen Diesners, Weils und Noldes haben einen neuen Treffpunkt, wo sie Pläne schmieden und antisemitische Hetzblätter unter die Leute bringen. Frank Lutz hat in der Lichtenberger Fanningerstraße ein Tattoo-Studio eröffnet. Dort gehen die Neonazis ein und aus. Auch ein prominenter Österreicher wurde dort gesehen – der soeben aus der Haft entlassene Günter Reintaler, ein Terrorist, der wegen Neugründung der NSDAP und wegen diverser Brandanschläge einsaß.