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Das Leben auf der Straße ist die Hölle

■ In Berlin gibt es mindestens 20.000 Wohnungslose / Zehn Westberliner Kirchengemeinden richteten Notquartiere für Obdachlose ein / In Ostberlin dagegen gibt es noch keine Schlafplätze oder Wärmestuben

Berlin. Die Männer in der Halle des Bahnhofs Zoo sitzen dicht zusammengedrängt. Immer wieder nehmen sie einen Schluck aus der großen Flasche mit dem billigen Fusel. „Gegen die Kälte“, sagen sie. Eigentlich dürfen sie sich hier gar nicht aufhalten, aber heute scheint niemand etwas gegen sie zu haben. Die Männer gehören zu jenen mindestens 20.000 Menschen in Berlin, die im Amtsdeutsch als Wohnungslose bezeichnet werden. Etwa 6.000 von ihnen leben ständig auf der Straße, der Rest vorübergehend in Billigpensionen oder Wohnheimen. Nicht wenige sind sogar froh darüber, die kalten Tage im Knast verbringen zu können.

„Die Zahl der Obdachlosen in der neuen deutschen Hauptstadt steigt von Monat zu Monat“, sagt Dorle Simon-Zeiske von der Obdachlosen-Beratungsstelle in Tiergarten. Besonders viele minderjährige Jugendliche und immer mehr Frauen, aber auch Menschen aus dem Ostteil der Stadt und dem Umland suchen zunehmend Rat und Hilfe in der dem Diakonischen Werk unterstellten Beratungsstelle. „Das einzige, was sie noch besitzen, sind ein paar Habseligkeiten in der Plastiktüte.“

Von heute auf morgen landen Menschen oft auf der Straße, wenn sie Mietschulden haben. Auch bei DieterK. war das so. Alkoholprobleme kamen dazu, schließlich verließ ihn auch seine Frau. „Da bist du ganz schnell unten“, versucht er seine Situation zu erklären. Heute lebt er auf der Straße, schläft im Park und – wenn es kalt ist – in öffentlichen Toiletten. Die wenigen Wärmestuben, die in Berlin von der Diakonie, Caritas oder anderen Wohlfahrtsverbänden eingerichtet wurden, sind besonders in den kalten Wintermonaten überfüllt. Doch für ein einfaches Mittagessen, eine Tasse Kaffee mit Stulle nehmen Obdachlose sehr gern auch weite Wege in Kauf. Auch Dieter K. zieht gemeinsam mit seinem Kumpel, der aus Ostberlin stammt, jetzt von Wärmestube zu Wärmestube.

Sonntag nachmittag gibt es Kaffee und Kuchen in der Kreuzberger Ölberg-Gemeinde. „Zwischen 14 und 19 Uhr kommen bis zu 80 Menschen zu uns“, erzählt Pfarrer Jörg Machel. Vor kurzem hat die Gemeinde die „Sonntagswärmestube Ölberg“ eingerichtet. Finanzielle Hilfe für diese Arbeit gewährt der Berliner Senat, den Rest steuert die Gemeinde bei. Eine alternative Bäckerei spendet das Brot.

Obdachlose Frauen finden in der Nachbargemeinde St.Jacobi eine Übernachtungsmöglichkeit. Insgesamt zehn Westberliner Kirchengemeinden haben für die Zeit vom 1. Oktober 1992 bis zum 31.März 1993 Notunterkünfte für Wohnungslose eingerichtet. „Über 90 Schlafplätze stehen so in diesem Winter zur Verfügung“, sagt Robert Veltmann, einer der Koordinatoren.

In Ostberliner Gemeinden gibt es dagegen bislang noch keine Schlafplätze oder Wärmestuben für Obdachlose. Die Verhandlungen zwischen Bezirksamt und Kirchengemeinden seien gescheitert, berichtet der Lichtenberger Superintendent Jochen Rißmann. Doch mindestens 500 Obdachlose – so die Erfahrung von Sozialarbeitern – leben im Ostteil der Stadt.

Zu ihnen gehören auch jene, die sich in der „Plattengruppe“ organisiert haben und im Bezirk Köpenick mit Hilfe von Diakonie-Mitarbeitern und der Sozialstadträtin Renate Walter schon vor einem Jahr das erste autonome Obdachlosenprojekt in der Bundesrepublik gegründet haben. In einer spektakulären Aktion hatten 30 obdachlose Männer im Winter vor zwei Jahren ein Haus besetzt, um nicht zu erfrieren. Jetzt leben sie in einem Haus in der Wendenschloßstraße, haben dort eigene Wohnungen, und die meisten von ihnen haben auch wieder eine Arbeitsstelle.

Von so einem neuen Zuhause können die Männer am Bahnhof Zoo erst einmal nur träumen. „Viele von uns haben gar nicht mehr die Kraft, irgendetwas in Gang zu setzen“, sagt Dieter K. resignierend. Auch von den Sozialarbeitern in den Beratungs- und Wärmestuben erwartet er keine Wunder. Diese verstehen sich aufgrund der Situation auf dem Wohnungsmarkt in der Tat „nur noch als Verwalter des Elends“. Aber auch Dieter K. will eine richtige Wohnung. „Denn das Leben auf der Straße – das ist wirklich die Hölle“, sagt er. Monika Herrmann (epd)

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