: Das Kunstwerk
■ Dennis Bergkamp besiegt Argentinien und freut sich auf das Halbfinale gegen Brasilien
Marseille (taz) – Als das Werk getan war, als der Ball im linken oberen Torwinkel eingeschlagen hatte und auf dem Rasen austrudelte, schlug Dennis Bergkamp beide Hände vor das Gesicht. Für ein, zwei Sekunden mochte der 29jährige gar nicht begreifen, was da passiert war. Welches Kunstwerk er da vollbracht hatte, und was für Auswirkungen es hatte, und was für ein unglaubliches Glücksgefühl durch seinen Körper schoß. Dann legte sich Bergkamp einfach der Länge nach hin und ließ sich vereinnahmen von seinen Kameraden, die ihm ihre Freude und ihren Dank auf Fußballers Art zeigten, mit rustikalen Umarmungen, Schulterklopfen und Zwicken in die Wange.
Bergkamps Kunstwerk, es war das Tor zum 2:1 für die Niederlande im Viertelfinale gegen Argentinien, die Entscheidung in der 90. Minute. Den Ball, den Frank de Boer aus gut und gerne 50 Meter Entfernung auf die Reise Richtung argentinischen Strafraum gebracht hatte, nahm Bergkamp, mit beiden Beinen in der Luft, so feinfühlig an, daß sich das Leder ihm ergab und vor seinen Füßen liegen blieb. Es folgte eine sofortige Drehung nach links, wodurch Gegenspieler Ayala ins Leere lief, und dann der harte, präzise Schuß mit dem Außenrist an Torwart Roa vorbei. Ein Treffer für das Lehrbuch, einer der Höhepunkte dieser WM, für den Torschützen „der intensivste Augenblick meiner Karriere“, und für Holland ein Zeichen, das es endlich etwas werden könnte mit dem Weltmeistertitel. Denn Dennis Bergkamp verkörpert wie kein anderer die Hoffnungen in Oranjeland. Da mag sich das Team von Trainer Guus Hiddink in Frankreich als jenes präsentiert haben, das die geringsten Schwankungen zwischen den einzelnen Positionen aufweist, da mögen Spieler wie Davids, Cocu, die de Boers, Seedorf oder Kluivert für Extraklasse stehen und sich, ganz holländisch selbstbewußt, auch für solche halten, sie alle sagen es trotzdem: Bergkamp macht den Unterschied. Selbst dann, wenn er sich eigentlich am Ende seiner Kräfte fühlt und ausgewechselt werden will. „Einen Bergkamp“, sagte Kapitän Frank de Boer lapidar, „den wechselt man nicht aus.“
Ein begnadeter Fußballer war Dennis Bergkamp schon immer, eine Führungspersönlichkeit nicht. In Italien, wo er von 1993 bis 1995 zwei schlechte Jahre bei Inter Mailand hatte, nannten sie ihn gar ein Weichei. Verantwortung zu übernehmen, damit hatte Bergkamp, ein eher stiller Zeitgenosse im lärmigen Fußballgeschäft, seine Mühe. Im Alter von 29 Jahren hält sich Bergkamp an die ihm lange Zeit suspekten Regeln der Branche, die zuvorderst besagen, daß Zurückhaltung oder Rücksichtnahme gar die falschen Tugenden sind. Nach dem Sieg gegen Argentinien lobte selbst Johan Cruyff: „So ist Bergkamp einer der besten Spieler der Welt, und so kann sich Holland seinen großen Traum vom Weltmeistertitel endlich erfüllen.“
Mit Dennis Bergkamp als Anführer sehen sich die Holländer auch im Halbfinale gegen den amtierenden Weltmeister nicht chancenlos. Gängige Meinung ist, die Brasilianer seien nicht stärker als die Argentinier, „und über die gesamte Spielzeit gesehen, haben wir die klar dominiert“, meinte Frank de Boer. Im Hochgefühl des Erfolges war auch die kritische Phase zwischen der 78. und 87. Minute kein Thema. 1:1 stand es da durch die Tore von Kluivert (12.) und López (17.), und die Südamerikaner waren nach Numans Platzverweis in Überzahl, bis Ortega für seine Tätlichkeit gegen Van der Sar ebenfalls rot sah. Viel lieber redeten sie über das Ereignis drei Minuten später. Paß de Boer, Zauberauftritt Bergkamp, Sieg. Das Schlußwort des Kapitäns: „Und jetzt können wir jeden schlagen.“ Ralf Mittmann
Argentinien: Roa – Sensini, Ayala, Chamot (90. Balbo) – Zanetti, Almeyda (67. Pineda), Simeone – Verón, Ortega – López, Batistuta
Zuschauer: 60.000; Tore: 1:0 Kluivert (12.), 1:1 López (17.), 2:1 Bergkamp (90.)
Gelb-rote Karte: Numan (76.) wegen wiederholten Foulspiels; Rote Karte: Ortega (88.) wegen Tätlichkeit
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