piwik no script img

Das Krächzen des Geiers

■ BR Deutschland - Spanien 2:2 / Der Zusammenhang von Sangeskunst und Torerfolg / Prima Wuttke

Aus Hannover Matti Lieske

„Deutschland braucht Briegel, denn er sprengt den Riegel“, verkündete ein riesiges Transparent den 50.000 Menschen, die sich im Niedersachsenstadion von Hannover zur Begutachtung eines Wett–Tretens zwischen jungen Bürgern aus Spanien und der BRD eingefunden hatten. Ob der erwähnte kantige Pfälzer tatsächlich einen Weg durch das um den schmächtigen Libero Gallego errichtete spanische Abwehrbollwerk gefunden hätte, sei dahingestellt; bei der Nationalhymne wurde Briegels Heldenbariton in jedem Fall schmerzlich vermißt. Franz Beckenbauer dürfte im übrigen seine plötzliche Eingebung, statt Nürnbergs Eckstein Bayerns Wohlfarth von Anbeginn spielen zu lassen, schon zu diesem frühen Zeitpunkt bitter bereut haben. Wohl in dem irrigen Glauben, in der Nationalmannschaft reiche es, wenn einer Tore schießt, hielt es der Debütant doch tatsächlich nicht einmal für nötig, wenigstens pro forma die Lippen zu bewegen. Und traf dann nicht einmal ins Netz.Er hätte sich ein Beispiel an den Spaniern nehmen sollen. Da sang nur einer: Torjäger Emilio Butragueno, genannt „El Buitre“ (Der Geier), der offenkundig versuchte, mangelnde Form durch intonierten Patriotismus auszugleichen, jeden Selbstzweifel im vaterländischen Rausch zu ersticken. Das Krächzen des Geiers trug in der 45. Minute Früchte. El Buitres Abspiel zu einem imaginären Mitspieler landete dank eines hilfreichen Eingriffs von Buchwald im deutschen Tor. Vielleicht hätte ja auch der längliche Julio Salinas vorher ein wenig singen sollen. Er versiebte beste Chancen, hatte aber gegen Ende Glück, als ihm im Strafraum die Beine weggezogen wurden, bevor er zum erneuten Fehlschuß ansetzen konnte. Den fälligen Elfmeter verwandelte der baskische Unhold Goikoetxea zum 2:2. Vorher war es auf dem Rasen gelegentlich ganz munter zugegangen. Die Befürchtung Franz Beckenbauers, die Spanier könn ten so spielen, wie er es auswärts immer verordnet, nämlich stur defensiv, traf nicht ganz ein. Zwar widmeten die Gäste einen Großteil ihrer Energien tatsächlich der Verteidigung, doch standen sie eigenen Angriffen durchaus aufgeschlossen gegenüber. In der Offensive wirkten sie ideenreicher und die Kompaktanlage im iberischen Mittelfeld, Gordillo und Victor, ließ mit breiter Brust die deutschen Spielzüge bereits früh entgleisen. Die Gladbacher Fehler–Fabrik Frontzeck–Rahn, Buchwalds Kostproben von Unfertigkeit im Vorwärtsspiel und das häufige Entschlüpfen des Herrn Matthäus in die Anonymität des Safety–First–Fußballs ließen nach kurzer Anfangseuphorie bald Stagnation und Fäulnis ins deutsche Spiel einkehren.Doch in der Halbzeit kam der Teamchef auf eine glorreiche Idee. Er wechselte Wolfram Wuttke aus Kaiserslautern ein und plötzlich kam Leben in die Bude. Wuttke griff das Spiel beim Schopf, ließ Goikoetxea, den „Schlächter von Bilbao“, solange Pirouetten drehen, bis dieser benommen zu Boden sank. Kurz darauf sah der sich gezwungen, dem kleinen Lauterer wenigstens seine faustkämpferische Überlegenheit zu demonstrieren, welcher daraufhin mit wunderbarem Hackentrick das 1:1 durch Waas vorbereitete.Als dann Berthold, ansonsten ein Muster an Ineffektivität, seine schwache Leistung mit einer präzisen Flanke krönte und Rahn mit seiner einzig nennenswerten Aktion das Führungstor köpfte, schien sogar ein deutscher Sieg möglich, zumal bis zum ausgleichenden Elfmeter recht gut gespielt wurde. Am Schluß jedoch waren beide Trainer froh, nicht verloren zu haben und ein wohlgelaunter Beckenbauer verstreute allseitiges Lob unter besonderer Berücksichtigung von Wolfram Wuttke, dem einzigen Gewinner dieses Abends. BR DEUTSCHLAND: Schumacher - Hörster (46.Augenthaler) - Kohler, Buchwald, Berthold - Rolff (46.Wuttke), Matthäus, Rahn, Frontzeck - Waas (70.Eckstein), Wohlfarth SPANIEN: Zubizarreta - Gallego - Tomas, Goikoetxea, Camacho - Michel, Gordillo (74.J.Alberto), Victor, Francisco (74.Senor) - Salinas (82.Uralde), Butragueno

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen