Das Konzept der Vorkasse: Zahlen, bis der Arzt kommt
Heute hat Schwarz-Gelb die Gesundheitsreform verabschiedet. Sie könnte auf eine Dreiklassenmedizin hinauslaufen, Versicherte könnten auf Mehrkosten sitzenbleiben.
BERLIN taz | Die Arzthelferin wollte nichts hören von ihren nächtlichen Wadenkrämpfen. Auch nicht davon, dass sie wegen der Kinder auf keinen Fall ins Krankenhaus könne. "Welche Krankenkasse?", fragte die Arzthelferin. Und als Sonja Riehmer den Namen einer großen gesetzlichen Krankenversicherung nannte: "Oh. Das sieht ganz schlecht aus."
Angeboten wurde Riehmer, die in Wirklichkeit anders heißt, schließlich ein "erster Untersuchungstermin" zur Mitte des nächsten Quartals. Was knapp vier Monate Wartezeit, Krämpfe inklusive, bedeutet hätte. "In diesem Moment haben mein Mann und ich uns entschlossen, innerhalb unserer Kasse zum Prinzip der Kostenerstattung zu wechseln", sagt Sonja Riehmer. "Zwei Wochen später lag ich unterm Messer."
Das Prinzip Kostenerstattung beschleunigt die Behandlung. Es ist der Versuch, die Finanzierung gesetzlicher Krankenkassen stärker am Vorbild privater Versicherungen auszurichten.
Ein Versuch, den die schwarz-gelbe Koalition heute im Bundestag mit ihrem Gesetz zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FinG) beschlossen hat: Wer als gesetzlich Krankenversicherter genug Geld hat, seine Arztrechnung per Vorkasse zahlen zu können, dem werden künftig weitaus attraktivere Angebote gemacht, als das bisher der Fall war. 306 Abgeordnete, praktisch die Fraktionen von Union und FDP, stimmten am Vormittag im Bundestag für diese Reform, 253 dagegen. Eine Zustimmung des Bundesrates ist nicht nötig.
Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) sägt mit dieser Novelle an einem Grundpfeiler der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV): dem Sachleistungsprinzip. Die Opposition spricht von einer drohenden "Dreiklassenmedizin".
Seit 1988 ist die Kostenerstattung in der GKV für freiwillig Versicherte grundsätzlich möglich; seit 2004 haben alle Versicherten die Möglichkeit, die Kostenerstattung zu wählen. Die Versicherten treten dabei in Vorkasse, das heißt, sie bekommen vom Arzt für die jeweilige Behandlung eine Privatrechnung ausgestellt. Diese begleichen sie und reichen sie anschließend bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse zwecks Rückerstattung ein. Bislang allerdings nutzen lediglich 0,2 Prozent der 72 Millionen gesetzlich Versicherten die Möglichkeit der Kostenerstattung auf freiwilliger Basis.
Für den Arzt birgt dieses Prinzip der Kostenerstattung Vorteile: Er kann, genau wie bei Privatpatienten, ein weitaus höheres Honorar abrechnen - für ein und dieselbe medizinische Leistung. Die unterschiedliche Bezahlung liegt allein in der privaten beziehungsweise gesetzlichen Gebührenordnung begründet. 2,3- bis 3,5-mal so viel darf der Arzt verlangen, wenn er privat abrechnet - gemessen an dem Honorar, das er bekäme für die exakt gleiche Behandlung "normal" gesetzlich Versicherter.
Also solcher Patienten, die Beiträge zahlen, zum Arzt gehen und die Abrechnung ihrer Kasse überlassen. Das steigert bei einigen Ärzten die Arbeitsmotivation und führt dann häufig, wie im Fall von Sonja Riehmer, zu kürzeren Wartezeiten und besserem Service für die Patienten.
"Die Vorkasse ist eine Mogelpackung", warnt Stefan Etgeton, Fachbereichsleiter Gesundheit bei der Verbraucherzentrale Bundesverband. Weil die Kassen nur den gesetzlich festgelegten Betrag erstatten dürften, die Ärzte aber höher abrechneten, blieben die Patienten oft auf mehr als 50 Prozent der Kosten sitzen.
"Eine Falle", so Etgeton. Sonja Riehmer beispielsweise musste für ihre ambulante Krampfader-Operation 690 Euro bezahlen, erhielt von ihrer Kasse aber nur 300 Euro zurück - so viel, wie der Arzt gegenüber der Kasse nach dem gesetzlichen Leistungskatalog hätte verlangen dürfen.
Die Techniker Krankenkasse (TK), mit mehr als sieben Millionen Versicherten eine der größten gesetzlichen Kassen Deutschlands, erstattet nach eigenen Angaben durchschnittlich sogar nur 36 bis 40 Prozent der eigentlichen Rechnungssumme. "Abgezogen werden ja von uns auch noch die Praxisgebühr, die Arzneimittelzuzahlung und ein Abschlag für die Verwaltungskosten", erläutert eine TK-Sprecherin.
Trotzdem zahlen einige freiwillig im Voraus. "Gesetzlich Versicherte, die beihilfeberechtigt sind, also Beamte, sowie Gutverdiener, die sich einen gewissen Service und privatärztliche Behandlung wünschen und sich eine private Zusatzversicherung leisten, die dann die Differenz zu uns erstattet." Auch Sonja Riehmer hatte sich vorsorglich zusätzlich privat abgesichert, um nicht auf den Kosten sitzen zu bleiben.
Gewisser Service, privatärztliche Behandlung. Eine feine Sache für einen kleinen Club Privilegierter, könnte man meinen. Doch die Bundesregierung hat schon viel weiter geplant. Das Modell der Kostenerstattung soll künftig in großem Stil ausgeweitet und angeboten werden - ausschließlich auf freiwilliger Basis, wie Gesundheitsminister Rösler nicht müde wird zu betonen. Die Ärzte erhalten künftig die Möglichkeit, ihren Patienten das Vorkasse-System quartalsweise anzubieten.
Bislang mussten sich Patienten für mindestens ein Jahr binden. Das schreckte viele ab. Auch wer sich im Rahmen eines besonderen "Wahltarifs" bislang zu dreijähriger Teilnahme an der Vorkasse verpflichtet hatte, erhält neuerdings vereinfachte Kündigungsrechte. Dann beispielsweise, wenn die Kassen zum Ausgleich ihres Defizits Zusatzbeiträge von den Versicherten verlangen.
Die Vorteile der Kostenerstattung erklärt Rösler so: Mehr Transparenz schaffe ein höheres Kostenbewusstsein beim Patienten. Dies befähige ihn dazu, die ärztliche Therapie zu hinterfragen. Hinter der Idee steht der Gedanke, dass Patienten, die beim Arzt die Rechnung zunächst selbst bezahlen müssen, von allein auf überflüssige Arztbesuche verzichten und damit das System entlasten. Dass die meisten Versicherten tatsächlich auf einem Großteil ihrer Kosten sitzen bleiben würden, weil sie sich eine Zusatzversicherung gar nicht leisten können, wird von Schwarz-Gelb in der Debatte gern verschwiegen.
Aber es wird in Kauf genommen und als erzieherische Maßnahme sogar positiv bewertet. Das weiter reichende Ziel dahinter beschrieb der FDP-Politiker Daniel Bahr, heute Staatssekretär im Gesundheitsministerium, bereits 2008 in einer Schrift des Verbands der Privatärztlichen Verrechnungsstellen: "Die Kostenerstattung wird nur dann eine optimale Wirkung entfalten, wenn diese mit sozialverträglichen Selbstbeteiligungsregelungen verbunden wird."
Die Opposition ist empört. "Den Patienten wird suggeriert, sie hätten Kontrolle und Wahlfreiheit", sagt die SPD-Politikerin Carola Reimann, die den Gesundheitsausschuss im Bundestag leitet. In Wahrheit, so Reimann, sei das Verhältnis zwischen Arzt und Patient nie eines "auf Augenhöhe".
Einem Patienten, insbesondere einem schwer kranken, bleibe in der Regel gar nichts anderes übrig, als der Expertise seines Arztes zu vertrauen. Wenn der Arzt dann Druck aufbaue und sage, diesen Termin oder jene ärztliche Leistung gebe es leider nur zum Vorkasse-Tarif, "dann möchte ich den Patienten sehen, der in der Lage ist, sich dagegen erfolgreich zur Wehr zu setzen", sagt Reimann. Es bestehe die Gefahr, dass leistungsschwächere Patienten Untersuchungen verschöben oder ganz auf sie verzichteten.
Tatsächlich soll künftig nicht mehr die Kasse, sondern der Patient die Auseinandersetzung über Rechnungen mit dem Arzt führen. Das aber setzt einen umfassend informierten und durchsetzungsstarken Patienten voraus, der auch im akuten Krankheitsfall eine starke Verhandlungsposition und den Durchblick bewahrt. Unter anderem darüber, ob eine bestimmte Diagnostik oder Therapie erforderlich ist, ob sie wirtschaftlich und nach den Regeln der ärztlichen Kunst erbracht wurde.
Wer dieser Anforderung nicht gewachsen ist, der wird künftig zwar noch medizinisch versorgt. Nur auf welchem Niveau? Sozialverbände, Gewerkschaften, die Opposition und selbst einige Krankenkassen sind davon überzeugt, dass mit der großflächigen Einführung der Vorkasse die Dreiklassenmedizin in Deutschland etabliert wird. Danach wären Privatversicherte Patienten erster Klasse, gefolgt von den gesetzlich Versicherten mit Kostenerstattungstarif.
Am unteren Ende stünde der große Rest der normal gesetzlich Versicherten: Ausgerechnet diejenigen, die ärztliche Versorgung am nötigsten haben - der Zusammenhang zwischen Armut und Lebenserwartung ist nachhaltig belegt. Denn sie versprechen künftig das geringste Honorar und sind damit für Ärzte kaum noch attraktiv.
"Die Kostenerstattung ist eine Zeitbombe, die durch die zukünftige Honorarreform der ärztlichen Vergütung erst ihre Sprengkraft entfalten wird", urteilt Achim Kolanoski, Vorstandsvorsitzender der Krankenkasse Deutsche BKK. Er fürchtet, dass die zukünftige Vertragsverhandlung mit Ärzten und Krankenhäusern immer schwieriger werden wird.
"Der Einfluss der Krankenkassen auf Kostenentwicklung und Qualitätskontrolle wird geschwächt", sagt er. Die Kassen haben keinerlei Einfluss darauf, wer an der Kostenerstattung teilnimmt und wer nicht. Der Patient verhandelt mit seinem Arzt und ist lediglich gehalten, die Kasse über seine Entscheidung in Kenntnis zu setzen.
Derweil können viele niedergelassene Ärzte die Ausweitung der Kostenerstattung kaum erwarten. In ihrem Internetforum facharzt.de debattieren sie seit Wochen ebenso munter wie ungehalten. Um Zugang zu den Diskussionsforen zu haben, benötigt man einen Code, den nur Fachärzte bekommen. In dieser vermeintlichen Sphäre der Sicherheit vor lästigen Patienten wird schon mal die Häme deutlich, mit der mancher Arzt auf seine Klientel blickt. So schreibt eine Ärztin: "Patient kann nicht leisten? Honorar, da muss er sich versichern.
Kann die Rechnung nicht beurteilen? Tja, ich kann meine Autorechnungen auch nicht wirklich beurteilen, da muss ich vertrauen oder eben fragen!" Darauf ein anderer Arzt: "Es wird doch im System beschissen, dass es nur so kracht." Ziffern würden eingegeben, die nicht in der Realität am Patienten erbracht wurden, Untersuchungen gemacht, nur um die Ziffern abzurechnen. Der Arzt: "Ganz ehrlich: Ich rechne mit - initial weniger - Geld nach Einführung der Kostenerstattung. Ich rechne mit mehr Diskussionen mit dem Patienten. Aber ich werde mit einem besseren Gefühl mein Geld verdienen als bisher."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz