: „Das Gefühl: Kneif mich bitte“
BADEN-WÜRTTEMBERG Ein Grüner regiert das Ländle! Eine solche Aussage hätte Hessens Grünen-Fraktionschef Tarek Al-Wazir noch vor einem Jahr für völlig verrückt gehalten
■ 40, ist seit elf Jahren Grünen-Fraktionschef im Hessischen Landtag. Seit 2006 ist der Politikwissenschaftler zudem Mitglied im 16-köpfigen Parteirat der Grünen.
INTERVIEW MATTHIAS LOHRE UND ULRICH SCHULTE
taz: Herr Al-Wazir, welche Bedeutung hat die Wahl von Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten für die Grünen?
Tarek Al-Wazir: Das ist für uns ein historischer Tag. So bedeutsam wie der Einzug in den Bundestag, der Tag der Ministerübernahme von Joschka Fischer in Hessen, der Tag der Beteiligung an der rot-grünen Bundesregierung. Erstmals werden die Grünen eine Regierung führen.
Und für Sie persönlich?
Es ist das Gefühl: Kneif mich bitte mal jemand. Unser Kretsch ist Regierungschef? Wenn mir das jemand vor einem Jahr erzählt hätte, hätte ich gesagt: Was hast du denn genommen? Eine Anekdote könnte ich da erzählen …
Bitte.
Kretschmann war immer davon ausgegangen, dass er höchstens mal mit den Schwarzen regieren könnte …
… weil es mit der SPD nie reichen würde.
Vor eineinhalb Jahren standen wir bei unserem Parteitag in Rostock beim Presseempfang beieinander. Im Hintergrund lief im Fernseher die Nachricht: Oettinger geht aus Stuttgart nach Brüssel, Mappus wird Nachfolger. Kretschmann wurde käsebleich – und sagte immer nur: „Der Mappus, der Mappus! Mit dem kannscht net regiere!“ Dass Mappus jetzt weg ist und Kretschmann Ministerpräsident, das ist eine Ironie der Geschichte.
Die Erwartungen an die Landesregierung sind hoch. Muss Grün-Rot nicht daran scheitern, diese Ansprüche zu erfüllen?
Das ist Baden-Württembergs Grünen wohl bewusst. Aber nehmen wir beispielsweise das Großthema Stuttgart 21: Wenn unsere Erwartung richtig ist, wird das Projekt in der bisherigen Form nicht leistungsfähig genug sein und schon an der Geldfrage scheitern – weil hohe Mehrkosten anfallen würden.
Das ist nicht die einzige Herausforderung. Grün-Rot will die Gemeinschaftsschule im Ländle einführen.
Man darf sich nichts vormachen. Wir sind dort erstmals an der Regierung, die kommunale politische Landschaft ist größtenteils tiefschwarz, die CDU ist immer noch stark. Für die Koalition geht es darum, sich auf den Weg zu machen, und dabei muss sie möglichst viele Menschen mitnehmen. Veränderungen im Bildungssystem sind erfolgreich, wenn man sie nicht von oben verordnet, sondern von unten wachsen lässt – das wird in Baden-Württemberg der Fall sein.
Sind die Grünen in einer ähnlichen Situation wie die FDP im Bund 2009? Der Höhepunkt ist da und nicht wiederholbar?
Es ist sicherlich so: Der Grat zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein und Größenwahn ist oft schmal. Die Grünen müssen aufpassen, dass sie sich nicht größer machen, als sie sind. Ich erinnere daran, dass wir immer noch in einem Land, in Mecklenburg-Vorpommern, gar nicht im Parlament sitzen, das ändert sich hoffentlich im September. Wir sind in bestimmten Bereichen mehrheitsfähig, aber es kommt stark auf die Situation vor Ort an.
Die FDP hat seit ihrem historischen Hoch einen dramatischen Abstieg hingelegt.
Wir wissen, was mit der FDP passiert ist. Aber das ist nicht übertragbar: Erstens sind wir nicht größenwahnsinnig. Zweitens haben wir mehr als ein Thema, das ist ein struktureller Unterschied.
Die CDU diskutiert Frauenquoten und schwenkt in der Atompolitik um. Ist Schwarz-Grün im Bund 2013 eine Option?
Ich halte Ausschließeritis für fatal. Wenn jeder immer erklärt, mit wem er auf keinen Fall zusammenarbeitet, dann geht am Ende oft nichts mehr, siehe Hessen 2008. Wenn es eine rot-grüne oder grün-rote Mehrheit geben wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass daraus eine Regierung entsteht – weil wir mit der SPD mehr Schnittmengen haben als mit der CDU. Wenn es 2013 nicht für Rot-Grün reicht, bin ich dafür, mit allen und natürlich auch mit der CDU zu reden. Dann käme es am Ende auf die Inhalte an.