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„Das Entscheidende ist der Sinneswandel“

■ In der Johannesburger Schwarzensiedlung Alexandra, aber auch im weißen Stadtteil Sandton war die Stimmung am Morgen des zweiten Wahltags optimistisch bis euphorisch

Als Maria Ndube aus dem Wahllokal herauskommt, stehen ihr Tränen in den Augen. „Das ist unser großer Tag, darauf haben wir ein Leben lang gewartet.“ Die 60jährige hat stundenlang in eisiger Kälte vor dem Alex San Kopano Resource Centre ausgeharrt. Von drei Uhr morgens an standen bereits Hunderte von Menschen vor dem Wahllokal Schlange, einem von insgesamt 20 im Johannesburger Township Alexandra. Kurz bevor die Wahllokale öffnen, um halb sieben Uhr morgens, gleicht das Township einer bewachten Festung. Die armseligen Hütten und Wellblech-Baracken sind mit Stacheldrahtrollen gesichert, die Straßen mit Panzerwagen abgesperrt. Obwohl es in den letzten beiden Jahren hier ruhiger gewesen ist, befürchtet die Polizei Auseinandersetzungen zwischen ANC- und Inkatha-Anhängern.

Alexandra, in der Vergangenheit Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Gruppierungen, liegt im Norden von Johannesburg, mitten in reichen weißen Villenvororten. Auf einen Quadratkilometer zusammengepfercht, leben hier 350.000 Menschen in ärmlichsten Verhältnissen. Die Arbeitslosenquote liegt bei nahezu 60 Prozent. ANC- und Inkatha-Gebiet werden von einer unsichtbaren Grenze getrennt. Wer sie übertritt, begibt sich heute noch in Lebensgefahr. Dazwischen liegt Niemandsland, verlassene und zerstörte Häuser, treffend „Beirut“ genannt.

Doch heute ist alles friedlich. Um kurz nach sieben Uhr ist die Schlange bereits auf mehrere hundert Meter angewachsen. Drinnen, im modernen Versammlungssaal des Gemeindezentrums, laufen fieberhaft die Wahlvorbereitungen. Weil es an Bleistiften und Stimmzetteln fehlt, verzögert sich der Start. Rufe werden laut: „Laßt uns wählen, was ist hier los?!“ Um die Wartenden zu beruhigen, werden schließlich die ersten 50 eingelassen. Sie dürfen im Innenhof auf Plastikstühlen Platz nehmen. Um kurz vor acht Uhr schließlich kann die langersehnte Prozedur beginnen. Auf vielen Gesichtern macht sich Erleichterung breit.

Was sie von diesem Tag erwartet? Maria Ndube antwortet knapp: „Demokratie. Und endlich Frieden.“ Was sie nicht weiß: Zur gleichen Zeit explodiert nur wenige Kilometer entfernt am Internationalen Flughafen von Johannesburg eine Autobombe. 18 Menschen werden dabei schwer verletzt, das Hauptgebäude des Flughafens schwer beschädigt.

Doch die Wahl nimmt ihren Lauf. Die Szenen beim Verlassen der Wahllokale gleichen sich an diesem Tag überall in Johannesburg. Die Menschen strahlen, umarmen sich, viele sind so bewegt, daß sie die Tränen nicht unterdrücken können. Alexandra unterscheidet sich zumindest in dieser Hinsicht nicht vom benachbarten feinen Sandton. Ansonsten scheinen die beiden Viertel auf verschiedenen Planeten zu liegen: hier elende Slumhütten, nur ein paar hundert Meter weiter gepflegte Millionärsvillen mit riesigen subtropischen Gärten. Doch vor der Wahlurne sind alle gleich.

Die Schlange vor dem City Council von Sandton ist um zehn Uhr etwa zwei Kilometer lang – und besteht zu 80 Prozent aus Schwarzen. Viele sind aus „Alex“, aber auch von weiter gekommen, weil es ihnen sicherer erschien, in einer weißen Gegend zu wählen. Sechs bis sieben Stunden müssen sie warten, um endlich ihr Kreuzchen machen zu dürfen. Doch die Stimmung ist ausgelassen, teilweise euphorisch. Die Menschen sitzen auf dem Rasen in der Sonne herum, manche haben Picknickkörbe und Klappstühle mitgebracht. „Das ist der aufregendste Tag meines Lebens“, japst Timothy Smith, ein weißer Ingenieur. „Wer hätte gedacht, daß das in diesem Land möglich ist. Sehen Sie sich die Schlange an, Schwarz und Weiß reden miteinander, als ob sie nie etwas anderes getan hätten.“ Weiße Madams stehen einträchtig mit ihren schwarzen Maids zusammen in der Schlange, ein weißer Unternehmer diskutiert mit einem schwarzen Taxi-Fahrer über das Lohnniveau im neuen Südafrika. „Sonst hat es höchstens zehn Minuten gedauert zu wählen“, sagt Nora Thompson. Die weiße Lehrerin sinniert laut: „Mir wird hier zum ersten Mal bewußt, wieviele Menschen in diesem Land leben und wieviele davon schwarz sind.“ Ob sie sich Sorgen um die Zukunft macht? Nein, sagt sie, wenn sie sich das hier ansehe, sei sie sehr optimistisch. Und so scheint es vielen Weißen zu gehen. Zumindest öffentlich mag niemand seine Befürchtungen zugeben. „Das Entscheidende ist der Sinneswandel, der sich in den Köpfen vollzogen hat“, glaubt Timothy Smith. „Ich kenne viele Leute, die überzeugte Anhänger der Apartheid waren. Heute stehen sie hier und wählen ANC.“ Kordula Doerfler, Johannesburg

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