Das Ende von Radio Multikulti: Der Stammhörer
Kai Kesper lebt auf dem Dorf, doch sein Sender ist Radio Multikulti aus Berlin, das Silvester für immer verstummen soll. Eine Spurensuche bei einem Fan.
USSELN taz Die Moderatoren, Aufnahmeleiter und Redakteure bei Radio Multikulti kennen Kai seit fünf Jahren, den treuen, schlicht wirkenden Hörer aus dem hessischen Zipfel des Sauerlands. Kai Kesper ist Stammhörer bei Radio Multikulti. Bisher. Einer von denen, die anrufen, wenn sie im Hörertalk ihre Meinung loswerden wollen oder wenn es eine neue CD mit indischer Bhangra-Musik zu gewinnen gibt.
Als der öffentlich-rechtliche Landessender für Berlin und Brandenburg, RBB, im Mai 2008 verkündete, dass den unausweichlichen Sparmaßnahmen zuerst die Hörfunkwelle Radiomultikulti zum Opfer fallen würde, hatte er wohl nicht mit der Protestwelle gerechnet, die der Ankündigung folgte. Die Integrationswelle, vor 14 Jahren als Reaktion unter anderem auf zunehmende rassistische Straftaten in Deutschland gegründet, sendet deutschsprachiges Programm mit Weltmusik von 6 bis 17 Uhr, danach Sendungen in 20 verschiedenen Einwanderersprachen von Albanisch bis Vietnamesisch. Der Freundeskreis der Welle, von HörerInnen spontan gegründet, hat über 31.000 Unterschriften gegen die Schließung gesammelt. Mit seiner von PolitikerInnen verschiedener Fraktionen unterstützen Forderung nach einem einjährigen Moratorium konnte er sich nicht durchsetzen. Statt dessen soll nun mit Unterstützung des Freundeskreises sowie ehemaliger MitarbeiterInnen der Welle fünf Minuten nach der Abschaltung von Radio Multikulti am Silversternabend um 22 Uhr ein privates Internetradio als Nachfolger auf Sendung gehen. Informationen unter www.multikulti.eu.
Kai wäre einfach ein Stammhörer geblieben, so wie Susanne mit der fröhlichen Stimme und der Exiliraker Reza, der on air gegen alles und jeden meutert. Einer derjenigen, die mit einer erstaunlichen, beharrlichen Zärtlichkeit an diesem Radio hängen. Aber dann kam der 21. Mai 2008, und die Intendantin des RBB, Dagmar Reim, verkündete, Radio Multikulti aus Kostengründen am 31. Dezember dichtzumachen. Seitdem sind ein paar Dinge anders im Leben von Kai Kesper. Bisher hatte er ein Radio, jetzt hat er eine Mission.
Radio Multikulti schaltet er direkt ein, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, aus der Molkerei. Wenn er die Bio-Schulmilch verpackt und die Schlagsahne im Labor auf ihre Qualität überprüft hat, dann holt er sich per Satellit ein Stück Welt und Weltstadt ins Haus, in das 2.100-Seelen-Dorf Usseln, das zu Willingen gehört: "World Wide Music" von Elektro-Tango bis Balkan Beats, Moderatoren aus Argentinien oder Rumänien mit rollendem "r" und Sendungen in 21 Sprachen. Kai spricht keine einzige Fremdsprache, und im Ausland war er nur zweimal in seinem Leben, auf Klassenfahrt in der Bretagne und in London.
Die Redaktion von Radio Multikulti saß noch apathisch und geschockt in ihren Räumen, da gab es schon eine Homepage, die gegen die Schließung protestierte und Informationen sammelte, etwa was in nichtöffentlichen Teil einer RBB-Rundfunkratsitzung besprochen wurde. Es war Kais Homepage, www.multikulti.eu, die Domain hatte er sich pro forma schon Jahre zuvor reservieren lassen. Aus Kai aus Willingen, dem langsam sprechenden, harmlos klingenden Stammhörer wurde ein ernstzunehmender Aktivist, der sein Radio retten will. Mit erstaunlichem Insiderwissen und Akribie. Wo hat er das alles her?, raunte es durch die Flure, wo sich hartnäckig das Gerücht hielt, dass der ominöse Stammhörer ein ausgebuffter Computercrack sei.
"Och, ich google einfach nur und suche Presseberichte", sagt Kai dazu. Nickt und sagt erst mal nichts mehr, wie so oft. Dafür serviert er - völlig selbstverständlich und gastfreundlich - in seiner Küche Tee aus einem seiner drei Samoware und Halva. Um die arabische Süßigkeit zu kaufen, muss er 20 Kilometer weit fahren. Oder sie von einem seiner Berlinbesuche mitbringen, wo er mindestens zweimal im Jahr hinfährt: zum "Karneval der Kulturen", dem bunten Straßenfest mit Berlinern aus aller Welt, und dem "Völkerball", dem Konzertmarathon zum Geburtstag von Radio Multikulti im September.
Kai hat gerade seinen Jahresurlaub in Berlin verbracht, zwei Wochen in einer Ferienwohnung in Kreuzberg. "Ist doch besser als nur daheim rumzuhängen." Daheim hängt zwar das Taj Mahal an der Wand, aber auf die Idee, dorthin zu fahren, ist er noch nicht gekommen. Berlin vereint die ganze Welt, ohne dass er in sie hinaus müsste. Und das auf Deutsch - und nur knapp sechs Stunden mit dem Zug entfernt. "In Berlin bin ich aufgeschlossener, lockerer, besser gelaunt. Und ich hab dort einen größeren Freundeskreis als hier."
Kai aus Usseln, das ist ein lediger Mann, der weder im Kegel- noch im Schützenverein ist - dem sozialen Rückgrat des Gemeinschaftslebens - und dafür im Dorf schräg beäugt wird. "Immer nur saufen", sagt Kai, "das mag ich nicht." Sein Alltag passt in 400 Schritte, so weit ist es von seiner Wohnung zur Molkerei. Kai ist einer, der sich beim Laufen ungestüm nach vorn neigt, als müsse er sein Gleichgewicht suchen. Er kommt manchmal nicht hinterher beim sozialen Pingpong der anderen, in größeren Gesprächsrunden. Deshalb benutzt er gern Floskeln. "Machs gut", sagt einer, "machs besser", sagt Kai freundlich. Kai Kesper trägt etwas zu kurze Cordhosen und sagt beim Spazierengehen zwischen Usselner Fachwerkhäusern: "Ach, die Katze kenne ich gar nicht, zu wem gehört die denn?" Die große Stadt ist sein Sehnsuchtsort, aber das Dorf ist seine Realität. Doch der "Schwarz-Rot-Geil"-Aufkleber der Bild-Zeitung auf einer Stoßstange stört ihn, das ist ihm zu nationalistisch. Und doch nimmt Kai Worte wie "fremdländisch" in den Mund nimmt und beschwert sich über "die Holländer", Touristen, die im Auto durch den Ort brettern würden. Dafür strahlt Kai, wenn er auf Radio Multikulti angesprochen wird, und am seinem heimischen Computer die Homepage für Radio Multikulti aktualisiert, eine Solidaritäts-CD mitentwirft oder Leserkommentare freischaltet. Und das jeden Tag, nach der Arbeit. Ein Wanderer zwischen den Welten, der ein Doppelleben führt.
"Was für ein Radio denn, Kai?", fragt Evi, die Wirtin aus der Gaststätte Zur Hölle, in der er zweimal die Woche bei Vereinsfeiern und Kegelabenden hinter dem Tresen aushilft. Ein Nebenjob und Freundschaftsdienst, seit 10 Jahren. "Davon hast du uns ja gar nichts erzählt! Ich frage ihn immer: Na, was gibts Neues? Und er sagt: Nichts." Kai grinst verlegen und wird ein bisschen rot. Bei Evi und ihrem Mann Ewald verbringt er seit einigen Jahren Weihnachten, seit seine Eltern tot sind und der Kontakt zu seinen beiden Brüdern zerbröselt ist. Kai bringt einen selbst gebackenen Schokokuchen mit, Evi und Ewald bieten ein Zuhause. "Und wir integrieren ihn", sagt Evi. "Bevor er in der Hölle gearbeitet hat, war er manchmal allein, jetzt ist er immer dabei". Kai ist dabei, aber er gehört nicht unbedingt dazu.
Geboren wurde Kai 1972 in Brilon, 20 Kilometer entfernt. Seitdem lebt er in dieser erträglichen Idylle. Usseln ist schön, aber nicht zu perfekt. Die Gärten in sind liebevoll gepflegt, aber nicht akkurat. Kein auf Kante geschnittener Golfrasen, keine Jägerzäune, die abschirmen. Stattdessen erzählen kleine Schilder des Heimatvereins die Geschichte einer Straße oder eines Platzes. Auf einer Satellitenschüssel lächelt breit ein Smiley, es gibt Wintergärten mit Korbmöbeln, und die Diemel, der Dorfbach, gurgelt zwischen Häusern hindurch. Das einzige Graffiti im Ort ist eine großäugig dreinschauende Kuh, die von der Dorfjugend an das Scheunentor eines Bauern gesprayt wurde. Der sah es von weitem und ließ es geschehen.
Die Kehrseite der Dorfidylle sind die Rechten. Nur eine Hand voll, aber sie sind tragende Pfeiler in der Architektur des Dorflebens: ein Schuhmacher, ein Handwerker, ein Gastwirt. Wie alle anderen treffen sie sich in Evis "Hölle" und anderswo, zeigen Bilder von Adolf Hitler auf ihrem Handy, schwärmen vom "starken Mann, der Deutschland fehlt" und rumoren gegen die wenigen "Ausländer" im Ort. Und wollen deutsche Musik. Für Kai, den Radio-Multikulti-Fan, der bei Evi als DJ auch für die Musik sorgt, ist das ein Dilemma. Er will nicht, aber sie sind das Dorf, sie sind da. Er beugt sich, auf seine Weise. "Einmal haben sie sogar verlangt, dass ich das ,Horst-Wessel-Lied' spiele", erzählt Kai. "Das hatte ich natürlich nicht. Aber Marschmusik musste ich dann schon auflegen, das hatten wir auf dem Server. Allerdings hab ich gleich die ,Internationale' hinterhergespielt. Und als sie sich beschwert haben, habe ich gesagt: Ihr wolltet doch Marschmusik!". Als Kai an diesem Samstag nach Hause kommt, liegt Post vom RBB in seinem Briefkasten, auf dem ein Radio-Multikulti-Aufkleber prangt. Mal wieder eine CD gewonnen. Von der Gruppe Deladap, Roma-Musiker mit dem "urban gypsy sound", wie das Cover jubelt. In solchen Momenten ist Usseln ganz weit weg.
Obwohl Kai sein ganzes Leben lang nur in Dörfern gewohnt hat, kann er mit deren Traditionen nichts anfangen. Lieber schafft er sich neue wie den Berliner "Karneval der Kulturen". Im Mai war er in Radio-Multikulti-Montur - orangefarbenes T-Shirt und Mütze samt Emblem - wieder da. Über eine Stunde stand er vor der Radio-Multikulti-Tribüne, für die er leider keine Eintrittskarte gewonnen hatte, und sah sich den Umzug der Kulturen in ihren bunten Kostümen an. Dann kletterte er über die Balustrade: Kai Kesper strahlte wie ein Kind und war am Ziel. Drinnen und nicht nur dabei.
Dazu riefen Roots-Reggae-Künstler und brasilianische Sängerinnen von der Bühne: "Radio Multikulti muss bleiben!" Was man eben so ruft, wenn man auf einer Bühne steht, es könnte auch "Save the whales!" sein. Der "Völkerball", die Geburtstagsparty für Radio Multikulti, die letzte überhaupt, war dieses Jahr eigentlich eine Beerdigung. Auch da war Kai dabei. Unbeirrt, freundlich wie immer, glücklich.
Radio Multikulti wird am 31. Dezember das letzte Mal senden. Glaubt Kai wirklich daran, dass es danach weitergeht? "Die Hoffnung stirbt zuletzt", rettet er sich in eine seiner Floskeln. Ab 22 Uhr wird auf Funkhaus Europa vom WDR umgeschaltet, das einige Sendungen von Multikulti weiterführen wird. "Das ist aber nur der zweite Aufguss." Und wie steht es um Berlin, würde er dort leben? "Wenn mir einer einen Job anbietet, gern. Aber Molkereien gibts da ja nicht so viele."
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