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Das Ende der Gewalt"Kaufen ist billiger als stehlen"

Der kanadische Evolutionspsychologe Steven Pinker behauptet in seinem Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit": Die Gewalt in der Welt ist rückläufig.

"Der Rückgang an Morden lässt sich dem Erstarken von Staaten und Regierungen zuschreiben." Bild: photocase / MMchen
Interview von Tim Caspar Boehme

taz: Mr Pinker, in Ihrem Buch "Gewalt" vertreten Sie die These, dass die Gewalt unter den Menschen über die Jahrhunderte insgesamt zurückgegangen ist. Wie friedlich ist die Welt von heute im Vergleich zu früher?

Steven Pinker: Die Mordrate ist auf der Welt heute viel geringer als im Mittelalter. In Europa lag sie im Mittelalter bei ungefähr 30 Morden auf 100.000 pro Jahr. Heute beträgt sie in den meisten westeuropäischen Ländern 1 auf 100.000 pro Jahr, was einem Rückgang um einen Faktor von etwa 30 entspricht, während der Weltdurchschnitt bei etwa 7 liegt. Auf der ganzen Welt geht es uns also im Durchschnitt besser als unseren Vorfahren.

Woran machen Sie das noch fest?

Bild: Rebecca Goldstein
Im Interview: STEVEN PINKER

1954 geboren in Montreal, ist seit 2003 Professor für Psychologie an der Harvard University. Seine Forschungen beschäftigen sich mit Denken und Sprache, er schrieb mehrere Weltbestseller, u. a. "Wie das Denken im Kopf entsteht" (1999). Er schreibt regelmäßig für die New York Times, Time und The New Republic.

Die Zahlen der Kriegstoten sind heute auf ihrem tiefsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Todesraten machen nur noch einen Bruchteil dessen aus, was sie in den frühen Fünfzigern, den Sechzigern oder den Siebzigern während des Vietnamkriegs betrugen.

Viele gewaltsame Einrichtungen, die jahrtausendelang zur Gesellschaft gehörten, gibt es nicht mehr, zum Beispiel Tod durch Folterung oder die Hinrichtung für Verbrechen ohne Opfer wie Blasphemie, üble Nachrede oder Ketzerei. Sklaverei ist heute auf der ganzen Welt illegal, früher war sie überall erlaubt. Und es gibt immer mehr Kategorien von Gewalt, gegen die angegangen wird.

Das Buch

Gerade erschien im Fischer Verlag, Frankfurt am Main, Steven Pinkers Buch "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" (1.216 Seiten, 26 Euro). Es will nicht weniger sein als eine Gesamtgeschichte unserer Zivilisation, dafür stellt Pinker die Entwicklung der Gewalt von der Urzeit bis heute in den Mittelpunkt. Pinker kommt zu dem Ergebnis, dass die Menschheit dazulernt und dass Gewalt im Spektrum menschlichen Handelns immer weniger eine reale Option darstellt. Dafür sorgen der Staat durch sein Gewaltmonopol und die Androhung von Gewalt, aber auch die gesellschaftliche Selbstzivilisierung im Sinne des Soziologen Norbert Elias.

Als da wären?

Häusliche Gewalt - die während der letzten 40 Jahre zurückgegangen ist -, die Prügelstrafe für Kinder - die im Westen rückläufig ist -, Hassverbrechen gegen Homosexuelle, sogar das Tyrannisieren von Kindern auf dem Spielplatz, was vermutlich die jüngste Gewaltkategorie ist, die man jetzt bekämpft. Auf verschiedensten Ebenen - von Krieg über Mord bis zum Verhauen von Kindern - hat es Fortschritte gegeben, die zu weniger Gewalt geführt haben.

Was sind die Hauptursachen für diese Entwicklung?

Der Rückgang an Morden lässt sich dem Erstarken von Staaten und Regierungen zuschreiben. Wenn es ein Justizsystem und eine Polizei mit Gewaltmonopol gibt, können sie durch Bestrafung abschrecken.

Das bedeutet umgekehrt, dass Leute, wenn sie wissen, dass ihre potenziellen Angreifer - und nicht bloß sie selbst - abgeschreckt sind, keinen Präventivschlag zu planen brauchen, um sie zu "beseitigen", bevor die anderen sie "beseitigen". Sie brauchen keine kriegerische Abwehrhaltung mehr und müssen an niemandem mehr Rache nehmen, weil der Staat es für sie tut. Das Erstarken der Regierungen war der Haupteinfluss, durch den die individuelle Gewalt eingehegt wurde.

Welche Rolle hat die Kultur dabei gespielt?

Die Abschaffung von institutioneller Grausamkeit und Gewalt wurde durch die Ideen im Zeitalter der Aufklärung vorangetrieben. Als die Menschen gebildeter wurden, hörten sie auf, abergläubisch zu sein und an Dinge wie Hexerei zu glauben. Sie begannen, die Perspektive anderer zu berücksichtigen, indem sie Belletristik und journalistische oder historische Texte lasen. Das machte es schwieriger, andere Leute zu dämonisieren, erhöhte das Mitleid und reduzierte Grausamkeit und Sadismus.

Und wie sieht es mit der Ökonomie aus?

Eine dritte Einflussgröße ist die Verbreitung von Wirtschaft und Handel durch Finanzinstrumente, die den Handel erleichterten, und durch technologische Innovationen, mit denen sich Waren und Ideen einfacher transferieren ließen. Ein Positivsummenspiel durch Wirtschaftskooperation hat das Nullsummenspiel aus Plünderei und Kriegen ersetzt. Es wurde billiger, Dinge zu kaufen, statt sie zu stehlen, und andere Menschen waren lebend plötzlich wertvoller als tot.

Sie haben gerade die Wirtschaft und den Handel als einen begünstigenden Faktor beim Rückgang von Gewalt erwähnt. Man könnte aber auch, wie es in der Soziologie geschieht, bestimmte Marktmechanismen oder wirtschaftliche Ausbeutung als "strukturelle Gewalt" bezeichnen. Warum spielen derlei Fragestellungen für Sie keine Rolle?

Weil diese Soziologen verwirrt sind.

Alle?

Nur weil sie verwirrt sind, heißt das nicht, dass ich es auch sein muss. Sie verwenden Gewalt als eine Metapher, um Dinge darunter zu fassen, die sie für falsch halten. Sie wollen damit die allgemeine Ablehnung von Gewalt mobilisieren, um sie gegen ökonomische Verhältnisse in Stellung zu bringen, die ihnen nicht passen. Ich halte das für unscharfe Terminologie, die zwei völlig verschiedene Phänomene zusammenwirft.

Das ist so, als wenn ich ein Krebsforscher wäre und Sie mich fragen würden, warum ich mich nur auf körperliche Formen von Krebs konzentriere und nicht auch die metaphorischen Erscheinungsformen von Krebs in der Gesellschaft wie Korruption berücksichtige. Ist das nicht auch eine Form von Krebs? Ich würde darauf antworten, dass Sie in Metaphern sprechen, und jeder, der sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit von Metaphern leiten lässt, ist verwirrt und wird keinerlei Erkenntnisfortschritt erzielen.

Wie definieren Sie denn Gewalt?

So wie im Wörterbuch: die Anwendung von körperlicher Kraft, um jemanden zu verletzen. Ich würde Mord, Vergewaltigung, Raub, Überfälle und Kidnapping darunter fassen, unabhängig davon, ob sie von Individuen verübt werden oder von Gruppen wie Milizen, Armeen oder Regierungen.

Um noch einmal auf den Rückgang bei Mord oder Kriegstoten zu sprechen zu kommen: Sie haben die Entwicklungen über mehrere Jahrhunderte hinweg anhand von Statistiken verglichen. Frühe Statistiken und Chroniken sind im Gegensatz zu heutigen Erhebungen jedoch nicht zuverlässig.

Weniger zuverlässig. Doch die historischen Kriminologen, die diese Daten zusammengetragen haben, haben eine Reihe von Überprüfungen vorgenommen, um sicherzugehen, dass sie nicht völlig danebenliegen.

Welche?

Sie haben etwa die Tatumstände eines Mords heutigen Beobachtern präsentiert und danach gefragt, ob sie dies als Unfall oder als Mord bezeichnen würden. Im Allgemeinen haben zeitgenössische Beobachter die Fälle genauso beurteilt wie die Leute damals. Man kann zudem diverse Konsistenzprüfungen vornehmen. Wenn etwa die Zahlen für verschiedene Länder dem gleichen Muster folgen, kann man zuversichtlich sein, dass man es nicht mit dem statistischen Zufallsergebnis einer einzigen Datenquelle zu tun hat.

Und wenn die Zahlen dann auch noch mit den von Historikern gegebenen Alltagsbeschreibungen jener Zeit übereinstimmen, stellt das eine weitere Form von Konsistenzprüfung dar. Wir wissen außerdem aus künstlerischen Darstellungen und zeitgenössischen Berichten, dass Gewalt im Mittelalter zum Alltagsleben dazugehörte. Der Umstand, dass die Zahlen von damals viel höher sind als heute, stimmt daher auch mit den erzählerischen Darstellungen überein.

Apropos erzählerische Darstellungen: Eine der ersten Zahlen in Ihrem Buch taucht im Zusammenhang mit der Bibel auf. Sie geben zunächst eine geraffte Fassung der Handlung des Ersten Buchs Mose bis zur Schaffung von Adam und Eva und der Geburt von Kain und Abel. Den Umstand, dass Abel von Kain ermordet wird, interpretieren Sie dann bei einer Weltbevölkerung von vier Menschen als eine Mordquote von 25 Prozent.

Das war natürlich ein Witz!

Erfüllt die Zahl noch einen weiteren Zweck? Immerhin nimmt die Darstellung nicht wenig Raum ein.

Nein. Ich glaube nicht, dass es Adam, Eva, Kain oder Abel gegeben hat. Es war ein Witz, der lediglich nahelegen sollte, wie verbreitet Gewalt in den Erzählungen über die Welt damals war, als die Geschichte aufgeschrieben wurde.

Zurück zu ihrer Buchthese: Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Ergebnis, dass die Gewalt abgenommen hat?

Zunächst einmal sind alle Weltbilder falsch, die unterstellen, dass die Gewalt schlimmer geworden ist. Und davon gibt es eine Menge. Die Konsequenz daraus ist, dass wir versuchen sollten zu verstehen, was die Gewalt reduziert hat. Irgendetwas ist dafür verantwortlich, wir haben also irgendetwas richtig gemacht. Es scheint mir daher geboten, herauszufinden, was das ist, sodass wir die Sache in Zukunft noch verstärken können.

Im Übrigen ist jede Weltanschauung falsch, derzufolge alles, was in den vergangenen 300 Jahren geschehen ist, ein schrecklicher Fehler war - die Aufklärung, die wissenschaftliche Revolution, Demokratie und Kapitalismus. Wenn die Angriffe auf diese modernen Begriffe auf der Annahme fußen, dass wir gewalttätiger werden, dann sind sie verfehlt, sodass wir sie noch einmal überdenken und die Entwicklungen der Moderne würdigen sollten. Denn zusätzlich dazu, dass sie unser Leben länger und angenehmer machen, haben sie unser Leben auch weniger gewalttätig gemacht.

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23 Kommentare

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  • DL
    der lentz

    ps

    die reaktion erinnert mich daran wie es ist wenn man den rückgang der polizeistatistisch erfassten gewaltkriminalität in diskusionen erwähnt.(wers nicht glaubt bitte bei der polizeiseite nachschlagen)

    90% der gesprächsteilnehmer werden sich sehr erregt gegen diese behauptung verwehren gerne mit dem verweis auf "wenn am boden wurde früher nicht mehr weitergemacht", ein argument das ich seit meiner kindheit von den damals alten kannte, also für meine generation die dies ebenfals für sich reklamiert, damals aber die kritisierte war, entweder unrichtig ist oder die alten haben schon gelogen...

     

    es gab nie eine gute alte zeit

    nur eine als man jung und fitt war und der welt ins gesicht lachte

  • DL
    der lentz

    au waia

     

    welches element struktureller gewalt ist denn neu?

    zugegeben vertragsbetrug kann es im ausgefeilten sinn nur in literalen geselschaften mit algemein anerkannten rechtsstandards geben

    also ungefähr seit der bronzezeit.

    rufmord bleibt rufmord ob mit oder ohne internet

    ob ich von pharmafirmen oder süssstoffhändlern (bleioxid!) quaksalbern oder klerikern/priestern/druiden vergiftet werde ist vom ergebnis egal.

    fiehle irgendjemand etwas ein was nicht einfach sein älteres äquivalent ersetzt wäre ich interressiert.

    hier waren derlei dinge nicht zu lesen.

    ausser dem verbreiten weiblicher hormone über die umweltverträglichkeitsschwelle hinaus fällt mir da aber selber auch nichts ein.

    nur noch die fluoridation des wassers ;)

  • M
    Matafrangos

    ... und wenn die körperliche Gewalt abgenommen hätte (was ich absolut nicht glaube, allein aus Dokumentationsgründen), so bringen die Menschen einander heute bevorzugt wirtschaftlich um - ist auch viel intensiver wahrnehmbar als der finale Eingriff ins Leben: Firmen in den Bankrott treiben, den Ex-Ehemann finanziell "bluten lassen", Rufmord in Internet- Medien betreiben etc.

  • A
    anke

    Ich möchte zu gerne wissen, ob Stehen Pinkert die Kommentare zu den Artikeln und Interviews liest, die auf sein Buch Bezug nehmen. Wahrscheinlich nicht. Würde er das tun, käme er womöglich ins Grübeln. Es ist, würde er vielleicht bemerken, womöglich doch nicht damit getan, die Menschen am Leben zu lassen. Die Dankbarkeit, die man dafür erntet, ist mitunter sehr begrenzt.

     

    Von 18 Kommentaren, die derzeit hier zu lesen sind, hat lediglich einer einen positiven Tenor. Und selbst der behauptet nicht, Pinkerts Buch sei gut. Er sagt nur, es sei gut gemeint. Um gleich darauf harsche Kritik zu üben an allen "Kulturpessimisten" und "Antiaufklärern", die sich kritisch darüber geäußert haben. Da frage ich mich doch: Wo fängt strukturelle Gewalt eigentlich an? Mit der Sprache, fürchte ich.

     

    Nein, so einfach, wie Steven Pinkert es gern hätte, ist es wahrscheinlich nicht. Es genügt nicht, mal eben eine (angreifbare) Statistik aufzustellen und festzuhalten, dass Handel, Gewaltmonopol und Zunahme der allgemeinen Informiertheit durchaus Ursachen sein können für einen Rückgang der Mordopferzahlen. Das nämlich wissen die meisten Menschen bereits, und zwar aus eigener, ziemlich konkreter Anschauung). Von allem, was man als positiv ausgemacht zu haben meint, schlicht mehr und immer mehr zu fordern, bringt offenbar außer erregten Debatten überhaupt nichts. Die Welt ist wohl einfach zu komplex und das Verhalten der Menschen zu widersprüchlich, als dass Milchmann-Rechnungen breite Akzeptanz finden könnten unter denen, die sich selbst auch schon mit Gewalt-Fragen befasst haben.

     

    Ich schätze, wenn aus den inzwischen angehäuften positiven Qualitäten, zu denen selbstverständlich auch einzelne Aspekte der Demokratie, des Welthandels und des staatlichen Gewaltmonopols (aber eben leider nur einzelne Aspekte davon!) gehören, eine neue Qualität wird (Systemkorrektur im Sinne angeblich verwirrter, Metaphern schwingender Soziologen), wird dem aktuellen kulturellen Höhepunkt demnächst wieder ein tiefes Tal folgen. Zumindest da, wo heute noch die Gipfel vermutet werden. So war es schließlich immer in den letzten 10.000 Jahren.

     

    Pinkerts Zahlen sind Durchschnittswerte, die nichts darüber aussagen, wie sich die Opferzahlen in bestimmten Regionen entwickeln. Das allerdings ist es, was die Menschen wirklich bewegt. Sie leben nämlich nicht 500 Jahre und weltweit, sondern heute und hier. Wenn sie den tatsächlichen Rückgang der Gewalt, den sie theoretisch jeden Tag erfahren, nicht auch praktisch FÜHLEN können, weil sie parallel zu Optimismus-Parolen mit Gewaltszenarien geradezu überflutet werden, nützt er ihnen nichts. Steven Pinkert allerdings kann das egal sein. Ihm genügt es wohl, wenn die Verkaufszahlen stimmen. Und die werden stimmen. Wäre doch gelacht, bei so viel allgemeiner Aufregung...!

  • R
    rob

    Oh Mann... wenn einer sagt, dass "strukturelle Gewalt" keine Gewalt ist, dann sagter damit _nicht_ dass "strukturelle Gewalt" nicht existiert oder kein Problem ist. Wenn ich sage dass ein Diebstahl kein Mord ist sage ich ja auch nicht dass es Diebstahl nicht gibt oder dass Diebstahl prima ist.

    Staendig diese Ueberinterpretationen, nur um sich aufregen zu koennen...

  • L
    Luilu

    3 fragwürdige Argumente von Steven Pinker:

     

    1. Herr Pinker behauptet die Mordrate auf der ganzen Welt sei zurückgegangen. Ich bezweifel, dass er genügent vertrauliche Statistiken für z.B.

    3. Weltländer zur Verfügung hatte.

    Häusliche Gewalt und Ähnliches sind im Allgemeinen schwer zu dokumentieren, weil darüber, egal wo, geschwiegen wird.

     

    2. Die Mordrate ist für mich für die Anzahl der Menschen, die aufgrund direkten/indirekten Einfluss von anderen gestorben sind. Was ist also mit der Mordrate, die z.B. von Pharmaunternehmen, durch unnötige Medikamentenvergabe, verursacht wird.

     

    3. Meiner Meinung nach hat sich Herr Pinker viel zu sehr auf Westeuropa beschränkt, um über einen Gewaltrückgang WELTWEIT zu sprechen. Ich glaube ihm, wenn er sagt die Rate der Gewaltopfer in Westeuropa ist zurück gegangen. Ich glaube nicht, dass die Rate der Gewaltopfer weltweit zurückgegangen ist, denn die Frage ist: Was ist Krieg und wer sind die Opfer?

     

    Was will uns der Autor denn nun damit sagen???

  • A
    Autofreier

    Ich habe herrn Pinkers buch noch nicht gelesen, sondern wg. der aktualität zunächst nur diesen taz-artikel.

     

    Eine stelle erschien mir verdächtig. Da sagt Pinker: "Sie [historiker] haben etwa die Tatumstände eines Mords heutigen Beobachtern präsentiert und danach gefragt, ob sie dies als Unfall oder als Mord bezeichnen würden. Im Allgemeinen haben zeitgenössische Beobachter die Fälle genauso beurteilt wie die Leute damals."

     

    Klar, die autonation ist sich einig, dass autofahrer keine mörder sind. Ein messer als tatwerkzeug gilt als indiz für mord oder totschlag. Ein auto wird als indiz für einen "unfall" gewertet. Siehe unzählige zeitungsartikel incl. polizeizeitaten.

    Die hundettausendfachen vollendeten und millionen- bis milliardenfachen versuchten hinrichtungen, die autofahrer an unmotorisierten vollziehen, lässt offenbar Pinker einfach außen vor. Weil zeitgenossen meinen, so wie es üblicherweise in der zeitung steht, stimme es schon.

  • FH
    Florian Hoffmann

    Die hier schreibenden Anhänger des Begriffes der strukturellen Gewalt kritisieren die fehlende Einbeziehung dieser in die Statistiken von Pinker.

     

    Sie vergessen jedoch, dass es zu dieser auch Äquivalente in früheren Zeiten gab, die ebenfalls nicht mitgezählt wurden.

     

    Was ist schlimmer, im Kaptalismus ausgebeitet werden und schuften für der Bonze Lohen im Rahmen eines indirekten Zwangs, oder im Mittelalter zum 90% Landpöbel gehören, dem Lehnsherr stets in allen Dingen rechtlos unterworfen ohne die Möglichkeit jemals auch nur ansatzweise aufzusteigen oder einfach nur den Wohnort zu wechseln.

     

    Als ob die Welt in den letzten 300 Jahren immer schlimmer, immer gewalttätiger und die Leute (absolut gesehen) immer ärmer geworden wären, also Leute echt ey...

  • S
    sponor

    An die Aufreger hier: Pinker meint bloß, auch Soziologen sollten versuchen ihre Begriffe sauber zu definieren. Ist das denn so schwer zu kapieren?*

    Er will bestimmt nicht (behaupte ich mal) alles Schlimme auf der Welt klein- oder wegreden. Er weist nur nach, dass die körperliche Gewalt (violence, wie Hans Adam schreibt) im engeren Sinn weniger wird.

     

    Ist doch schön, nicht? Oder darf es nicht sein, weil man dann in seinem kulturpessimistischen (und antiaufklärerischen?) Denken erschüttert wird?

     

    ______________

    * Fast hätte ich geschrieben: Muss man dafür Naturwissenschaftler sein?...

  • DJ
    Dirk Jäckel

    1. Mir ist völlig räteslhaft, wie der Autor für eine Zeit ohne Kriminalitätsstatistiken (Mittelalter) auch nur annähernd verlässliche Zahlen hinsichtlich der Mordrate herausfinden möchte. Es mag für das Spätmittelalter vereinzelt überlieferte obrigkeitliche Aufzeichnungen dazu geben, aber die betreffen meust nur die größten Städte.

    2. "Viele gewaltsame Einrichtungen, die jahrtausendelang zur Gesellschaft gehörten, gibt es nicht mehr, zum Beispiel Tod durch Folterung oder die Hinrichtung für Verbrechen ohne Opfer wie Blasphemie, üble Nachrede oder Ketzerei." Ach ja? Wie vielen Menschen droht in islamischen Ländern derzeit der Tod wegen Blasphemie oder Apostasie?

  • PP
    Pinker Pinkler

    Wer Gewalt nur als "Anwendung von körperlicher Kraft" definiert ist nicht nur ein Fundamentalist, sondern auch ein Ignorant.

     

    Erwiesenermaßen empfinden Menschen psychische Verletzungen nicht nur ebenso schmerzhaft wie ein Schlag auf den Kopf oder ein Schnitt mit dem Messer, vielmehr verursacht psychische Gewalt auch längeres Leiden und mehr Qualen als ein z.B. ein ausgeheilter Knochenbruch.

     

    Das zu ignorieren ist nicht nur dumm, sondern unwissenschaftlich, Herr Pinker!

  • L
    ladidudu

    Vortrag von Herr Pinker zu diesem Thema.

     

    http://edge.org/conversation/mc2011-history-violence-pinker

  • J
    Jengre

    Moment: Eine Entführung ist Gewalt, ja? Finde ich auch - obwohl dort entgegen der Pinkerschen Definition Gewalt vielleicht "nur" angedroht wird. Wenn jedoch Minenarbeiter, die nur in Gutscheinen für Wucherläden der Mineneignergesellschaft bezahlt wurden, an Streiks mit der Androhung bewaffneter Gewalt gehindert wurden, war das keine Gewalt - richtig? Eine Schleuserbande, die einer Frau den Pass wegnimmt und sie mit Drohungen zur Prostitution zwingt, übt auch keine Gewalt aus? Ein Arbeitgeber, der bei hoher Arbeitslosigkeit von Kündigungen spricht, um Änderungen zum Nachteil der Lohnabhängigen durchsetzen, auch nicht? Nur für die "Verwirrten"...

  • J
    Jonas

    Für mich ist die strukturelle Gewalt durchaus auch Gewalt.

     

    Um das von der Grössenordnung einzuordnen, kann man rechnen: Jean Ziegler (ehem. Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung) nennt die Zahl von 100.000 Toten und dauerhaft Geschädigten durch Hunger pro Tag (er spricht von Mord, weil die Menge bei gerechter Verteilung reichen würde).

     

    Das sind 365 * 100.000 = 36,5 Millionen Tote oder dauerhaft Geschädigte im Jahr.

     

    Bezogen auf die Weltbevölkerung sind das 36.500.000 / 7.000.000.000 = 36,5 / 70.000 = ca. 52 / 100.000 Tote oder dauerhaft Geschädigte durch strukturelle (Hunger-)Gewalt pro Jahr, im weltweiten Durchschnitt. In den betroffenen Gebieten sind die Zahlen noch viel höher als im Durchschnitt.

     

    Und niemand hat "Gewalt" im engen Sinne angewendet. Wirklich nicht?

  • K
    Kommentator

    Klasse!

     

    1. Nette Kausalität

    Dann brauchen wir gemäß der Kausalität ja einfach nur mehr von Aufklärung, Kapitalismus und Demokratie in die Pfanne geben, und alle sind happy und friedlich.

     

    Und wenn es ne Explosion gab, lag das wohl am falschen Mischungsverhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie.

    Wieviel von beidem, Mr. Pinker?

     

    2. Wieviel Sanftmut entsteht eigentlich in Südamerika, wenn CocaCola, Nestle und Co. dort ihren "Frieden" bringen?

     

    Da der Diebstahl und Verkauf von Regenwasser, Land, Nahrung und Lebensperspektive keine "GEWALT" im engen Sinne ist, macht dies die Erde friedlicher und sanftmütiger?

     

    Bestimmt, sonst wäre man ja ein "verwirrter Soziologe"...

     

     

    PS: Wer finanzierte das Projekt?

  • A
    AlexsZander

    Die Gewalt in der Welt ist rückläufig! Was für eine Neuigkeit! Ich bin völlig baff. Blöd nur, dass das schon Norbert Elias – ein Soziologe - vor Jahrzehnten gesagt hat.

    Tim Caspar Boeme klaut also Ideen von Soziologen, gibt sie als die eigenen aus und tut dann auch noch so als würden alle Soziologen unwissenschaftlich arbeiten und wären verwirrt, weil sie im Metaphern sprechen würden.

     

    Das Gerede von struktureller Gewalt ist absolute 70er Jahre Soziologie, ist heute veraltet, war selbst damals nicht Mainstream und der normale Studi hört heute rein gar nichts mehr darüber in seinem Studium. Leider entsteht im Interview ein anderer Eindruck.

  • E
    einspruch

    die Gewalt nimmt also ab und als Prämisse setzt der "Evolutionspsychologe", es gäbe so etwas wie strukturelle Gewalt nicht - aber lassen wir das mal gelten - der Ansatz Gewalt einzig aus legalistischer Perspektive zu betrachten scheint mir hochgradig fragwürdig. Es bleiben natürlich diejenigen Formen von Gewalt verdeckt, die aus der Perspektive des Rechtsstaates nicht als Gewalt definiert werden (an solche Daten kommt Herr Pinker ja gar nicht ran). Etwa die alltägliche Gewalt in der Psychatrie, wo Menschen gezwungen werden toxische Stoffe aufzunehmen, die kurioserweise als Medikamente bezeichnet werden. Oder was ist mit dem täglichen Morden in den Schlachthöfen dieser Welt.

     

    Was beiden Fällen gemeinsam ist, ist die Verdrängung und das Outsourcing von Leid aus den Augen der Gesellschaft. Das bedeutet nicht, wie Herr Pinker es behauptet, die Gewalt gehe real zurück, sondern dass sie entrückt wird.

  • B
    Bob

    Schöne These!

    In der Tat ist es fiedlicher geworden, was ja nur zu befürworten ist. Die These basiert auf einem veränderten Bewusstsein gegenüber Gewalt als ökonmisches Mittel.

     

    Man könnte allerdings fragen, gibt es weniger große Kriege, weil auch die Waffen effizienter geworden sind? Nach einem Nuklearfall git es nichts mehr zu holen! Die Waffensituation macht die große ökonomische Ausbeute unmöglich?

    Bob

  • C
    Charlemagne

    Also...

    man kann sich ja alles schönreden.

     

    1) OK, im Mittelalter gab es pro 100000 Menschen 30 mal mehr Morde. Dafür gab es aber auch (etwa) 30 mal weniger Menschen. An der absoluten Zahl hat sich also nicht viel geändert.

     

    2) Kriegsopfer: OK, dank Bluttransfusionen, Schutzausrüstung, sterilen Instrumenten und Antibiotika sind die Zahlen gefallener Soldaten seit WK1 zurückgegangen. Deutlich gestiegen ist aber im gleichen Zeitraum der Anteil sogenannter Kollateralschäden - unbeteiligter Zivilisten, die Opfer des Krieges wurden.

     

    3) Sklaven: Schöner schein, nichts weiter. Selbst in D gibts Sklaven (wahrsch. v.A. Sexsklaven aus Osteuropa) und weltweit leben sehr viele Menschen in Sklaven-ähnlichen Verhältnissen.

     

    Letztendlich ist und bleibt Gewalt in jedweder Form das wesentliche Mittel, auch international, Krisen zu den eigenen Gunsten zu entscheiden. Man schaue sich nur die Verteilungskämpfe um Wasser und andere Ressourcen zB. im nahen&mittleren Osten an.

     

    Von wegen keine Gewalt mehr...

  • K
    Kinogänger

    Da bleibt nur zu hoffen, dass zukünftige Histroiker der Versuchung widerstehen, aus unseren heutigen Actionfilmen abzuleiten, wie präsent Gewalt im Leben des Durchschnittsbürgers zu unserer Zeit war...

     

    Aber insgesamt stimmts schon: es geht uns (hier in den Industriestaaten) insgesamt wohl besser, als unseren Ahnen.

  • TW
    Tobias Wacke

    Selten so einen Mist gelesen.

    Die Mordrate soll also zurückgehen - Wie siehts mit dem Holocaust aus, es scheint so als ob dieser einfach ausgeklammert wird.

    Strukturelle Gewalt gibt es für diesen Soziologen nicht - interessant, verhungern doch täglich tausende Meschen obwohl es genug zu essen für alle gibt. Und ist das nicht auch schonwieder Mord? Warum werden diese Fälle nicht mit eingerechnet?

     

    Er spricht im übrigen auch nur von physischer Gewalt - es wird sogar die psyschiche Gewalt ausgeklammert - Mobbing, viele Spielarten des Sexismus, - alles keine Gewalt, und somit auch kein Problem.

     

    Setzen,6!

  • HA
    Hans Adam

    Ich geh mal davon aus, dass das Interview in English geführt wurde und er den Begriff "violence" verwendet. Der deutsche Begriff Gewalt kann aber synonym zu Zwang verwendet werden, deshalb ist strukturelle Ausbeutung darunter sehr wohl zu verstehen.

     

    Aber wenn er wirklich nur "violence" benutzt, was tatsächlich "nur" die Verletzung der körperlichen Intigrität ist, dann wird deutlich, dass er einen Rückgang der körperlichen Gewalt in den westlichen Ländern feststellt - im Gegensatz zum Mittelalter.

     

    Bei den Kriegstoten führt er an, dass wir uns auf dem niedrigsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg befinden.

     

    Also ganz ehrlich, ich bin mir über den Nutzen einer Arbeit nicht ganz im Klaren, die feststellt, dass die Morde seit dem Mittelalter im Westen abgenommen haben und es nichtmal 70 Jahre nach einem Jahrtausendkrieg weniger Kriegstote gibt.

     

    Er sagt zwar nicht direkt, dass er seine Ergebnisse gut findet, aber irgendwie implizieren seine Aussagen schon, dass sich etwas zum positiven ändern würde.

     

    Wenn wir allerdings Subsahara nicht mehr durch Sklavenhandel ausbeuten, aber dafür wegen der Rohstoffe, Kontinentfremde Seuchen dort eingeschleppt haben, die katholische Kirche Kondome nicht erlauben und der Sklavenhandel im übrigen innerafrikanisch weiter floriert, dann wird deutlich, dass unterm Strich genauso viele Menschen durch Fremdeinwirkung sterben wie früher - nur nicht so offensichtlich.

     

    Insofern ist die deutsche Definition des Wortes Gewalt woh besser geeignet, um soziologische Schlüsse zu ziehen.

     

    Heute hat sich schlicht der Modus der Gewalt geändert. Er kann nicht ernsthaft behaupten, dass die Zahl der Opfer von Fremdeinwirkungen aus niederen Motiven über die Jahrhunderte abgenommen hat.

  • MV
    miss verständnis

    eine kurze verständnisfrage: im ersten absatz ist davon die rede, dass "[...] der weltdurchschnitt bei etwa 7 [...]" liegt. worauf bezieht sich das? auf den faktor, um den die morde im durchschnitt zurückgegangen sind, oder auf die anzahl der morde, die im durchschnitt auf 100.000 menschen pro jahr kommen?