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Das Ende der Blöcke hat nichts geändert: Westliche Außenpolitik stellt nicht Humanität, sondern eigene Interessen in den MittelpunktVom Westen nichts Neues

Die Vakuumbomben wurden im Namen der Menschenrechte entwickelt

Vor ein paar Jahren, beim ersten Tschetschenienkrieg, als die umkämpfte Kaukasusregion in Europa noch weithin unbekannt war, waren Schnitzer an der Tagesordnung, bei denen Tschetschenien mit Tschechien verwechselt wurde und umgekehrt. Inzwischen ist wohl jedem Zeitungsredakteur und jedem Moderator klar geworden: Grosny liegt wirklich nicht an der Moldau, und es macht seinem Namen eine zweifelhafte Ehre. Grosny, was im Russischen „Die Schreckliche“ bedeutet, wird in die Geschichte des ausgehenden 20. und der ersten Stunden des 21. Jahrhunderts als die Stadt des Schreckens eingehen. Umso mehr mit dem neuen russischen Präsidenten Putin, der für seine Wahl im März auf jeden Fall den totalen Sieg braucht.

Eine der letzten Schreckensmeldungen aus Tschetschenien lautete, dass die russische Armee spezielle Vakuumbomben einsetzt, bei denen auf hunderten von Quadratmetern alles, was kreucht und fleucht, bei lebendigem Leibe verbrennt oder erstickt: Tiere, Menschen, Krieger, Zivilisten. Eine andere Meldung berichtete davon, dass die in Washington D.C. angesiedelte Weltbank Russland einen weiteren Kredit im Wert von 100 Millionen Dollar genehmigt hat. Zu diesem Nachschub von frischem Geld war aus den westlichen Hauptstädten und von der deutschen Regierung kein Piepser zu hören.

Und es gab in den letzten Wochen noch andere Meldungen. Zum Beispiel hat Bundesverteidungsminister Rudolf Scharping, der während des Kosovo-Bombardements tagtäglich so triefend leidenschaftlich für die Menschenrechte eingetreten war, eine Einladung seines russischen Amtskollegen zu einem freundschaftlichen Besuch angenommen. Und aus dem Munde von Bundesaußenminister Joschka Fischer, aus dem im Frühjahr humanitär gefärbte Beschwörungen so ausgiebig flossen, sind heute bestensfalls staatsmännisch portionierte Ermahnungen an die russische Seite zu hören, sich in Tschetschenien bitte doch ein wenig zu mäßigen.

Bleibt die Frage: Was ist mit dem Westen? Gibt es ihn noch, diesen „Westen“, der sich doch immer da ins Zeug wirft, wo es die Menschlichkeit zu verteidigen gilt? Gab es ihn überhaupt jemals? Oder ist er nur den Gehirnen von Ideologen entstiegen? Unlängst wollten sie uns glauben machen, dass im Namen der Menschlichkeit deutsche Bomben auf Belgrad und Novi Sad geworfen werden müssen, obwohl die gleichen Leute sich zum Beispiel mit der Vertreibung der Krajina-Serben abzufinden scheinen. Erinnert sich in Europa noch jemand an die Krajina-Serben und fordert etwa, dass Kroatien an eine EU-Aufnahme überhaupt nur dann denken kann, wenn es den Serben erlaubt, als gleichberechtigte Bürger in ihre Heimat zurückzukehren?

Was war der „Westen“ in der früheren Vergangenheit? War er ein Trugbild, das nur deshalb so wunderbar real zu sein schien, weil er selbstgefällig das autoritäre Gegenbild des Ostens im Spiegel betrachten konnte? Für welche Humanität kämpfte Amerika mit Napalmbomben in Vietnam?

Für jemanden wie mich, der in einem der Länder des „Ostens“ zur Schule ging, dort erwachsen wurde und von dort aus westwärts blickte, gab es diesen „Westen“, doch höchstens nach der Devise Winston Churchills, der ihn als das beste aller schlechten Systeme bezeichnete. Das war mir zu wenig, ich hätte mir gern etwas mehr gewünscht. Aber ich wusste: Mehr war nicht drin. Denn unvergessen doppelbödig blieb die Freiheitsrhetorik des Westens beim Ungarnaufstand 1956 gegen die sowjetischen Panzer, während fast zeitgleich französische und britische Streitkräfte in der Sueskanal-Zone einmarschierten. Hier herrschte das Prinzip: Eine Hand wäscht die andere.

Und als 1968 sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei einfielen, wusste jeder im Osten, dass der Westen, außer große Worte in die Welt zu setzen, keinen Finger rühren würde. Der sowjetische Einmarsch hat damals „nur“ ein paar dutzend Tote gekostet. Besäßen die Tschechen den selbstmörderischen Todesmut der Tschetschenen, den sie Gott sei Dank grundsätzlich vermissen lassen, hätte es vielleicht tatsächlich ein Grosny an der Moldau gegeben, selbstverständlich auch da unter einer krokodilstränenreichen Anteilnahme des Westens.

Hat es den Westen, diesen Verteidiger der Menschenrechte, also gar nicht gegeben? Aber gewiss doch, es gab ihn. Er war immer zur Stelle, und er handelte getreu nach der Devise: Moral ist unser Interesse. Allerdings mit einer kleinen, doch stets präsenten Einschränkung: Er schwenkte die Fahne der Humanität nur dann, wenn es ihm in den Kram passte. Immerhin das! Denn das konnte in Einzelfall positive Nebenwirkungen zeitigen, unabhängig davon, was die wirklichen Motive des Handelns waren. So wie es analog – ohne und zum Teil sogar gegen den Westen – in Kambodscha geschah, als dort die Vietnamesen halfen, das Pol-Pot-Regime zu stürzen. Nicht etwa, um die Menschenrechte zu schützen, sondern weil es um ihre Machtinteressen ging. Der Westen dagegen, ganz besonders dann, wenn uns sein Handeln von deutschen Politikern erklärt wird, hat selbstverständlich nur hehre Ziele? Auch dem Naivsten müsste seit den Auftritten westlicher und deutscher Politker während des Kosovo-Einsatzes klar geworden sein: je mehr Humanitätsgerede, desto mehr andere Interessen gibt es mit ihm zu kaschieren.

Das „beste unter allen schlechten Systemen“ ist jetzt das einzig schlechte

Also nichts Neues im Westen. Höchstens, dass der „Westen“ weit in den „Osten“ vorgerückt ist und nicht mehr ständig beweisen muss, etwas Besseres zu sein. Das beste unter allen schlechten Systemen ist das einzige und damit konkurrenzlos geworden, womit sich dessen wichtigster Glaubenssatz – die Konkurrenz belebt das Geschäft – in ironischer Umkehrung bestätigt.

Damit soll nicht dem Wegfall des „Ostens“ nachgetrauert werden. Nur um als Korrektiv und Legitimation des westlichen Systems zu dienen, waren die Opfer zu groß, die von den Untertanen der untergegangenen autoritären Regime zu erbringen waren. Allerdings sollte allen und ganz besonders jenen, die so gern die westliche Wertegemeinschaft hochhalten, zu denken geben, dass nun das beste unter allen schlechten Systemen als das einzig schlechte übrig geblieben ist. Macht es dieser neue Umstand den heute Herrschenden eben nicht doch noch leichter, zu leicht, auf die Bombenknöpfe zu drücken – aus alter Gewohnheit natürlich immer für die Humanität, versteht sich?

Zur Erinnerung: Die Vakuumbomben, die den russischen Tschetschenienkrieg werden gewinnen helfen, sind zuerst von den amerikanischen Streitkräften entwickelt und angewandt worden. Im Namen der Menschenrechte. Auch daran besteht doch kein Zweifel, oder? Richard Szklorz

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