piwik no script img

Das Elend hat viele Gesichter

■ Alltag in der Drogenszene am Kotti: "Hauptsache breit sein, egal wovon" / Viele wissen nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen / Drogenprojekt Strass spricht von "Elendsverwaltung"

Haste Pumpen dabei, ey?« Taumelnd kommt ein etwa 35jähriger Mann mit schmuddeliger Jacke und zerlöcherter Hose am Kottbusser Tor auf die »Strass«- Streetworker Bernd Meinke und Walter Kabisch zu und bleibt mit ausgestreckter Hand vor ihnen stehen. Bernd Meinke öffnet seine große Tasche, die er über der Schulter hängen hat, und wühlt in dem Inhalt. »Wie viele willst du denn?« »Gib mal vier. Hast du auch lange Nadeln und Tupfer?« Bernd Meinke hat. Ohne weitere Fragen zu stellen, reißt er von dem dicken Plastikpacken die gewünschte Zahl steriler Spritzen und Kanülen ab und drückt sie dem Junkie zusammen mit ein paar Alkoholtupfern in die Hand. Während dieser das Päckchen mit zittrigen Fingern in seiner Jacke zu verstauen sucht, »bedient« Meinke schon die nächsten. »Mensch geil, daß du die braunen Nadeln hast, die sind so schwer zu kriegen«, freut sich eine stark geschminkte Frau, die sich nur mit großer Mühe auf ihren hohen Absätzen halten kann.

Auf der Szene am Kottbusser Tor, wo bisweilen bis zu 50 Junkies ausharren, stehen an diesem kalten Dezembernachmittag nur zehn ausgemergelte Gestalten im Windschatten der Imbißbuden und Marktstände. Die Mehrzahl sind Männer. Das einzige, was sie verbindet, ist die Sucht und das Warten auf den Kleindealer. Warten, das heißt, die aufgesprungenen Lippen auf die Zigarette pressen, billigen Fusel trinken. Warten, daß heißt null Kommunikation, nur »haste was?«, »weißste was?«. Und wenn der Stoff endlich erstanden ist, heißt es, ganz schnell in einen Hinterhof verschwinden, um sich dort den ersehnten Schuß zu setzen. Wer Glück hat, weiß zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon, ob er die Nacht bei einem Kumpel oder in einer Pension im Warmen verbringen kann.

»Das ist reine Elendsverwaltung.« Die beiden Mitarbeiter von Strass, dem Szeneladen für Junkies, Bernd Meike und Walter Kabisch, machen keinen Hehl aus ihrer Arbeit. Sie und ihre fünf Kolleginnen und Kollegen sind mehrmals in der Woche in der Berliner Drogenszene unterwegs, die sich auf drei Plätzen in der Stadt konzentiert. Der Breitscheidplatz ist tagsüber zentraler Treffpunkt für die Junkies aus Randbezirken und Innenstadt. Am frühen Abend ziehen sie zur Kurfürsten-/ Ecke Potsdamer Straße um. Die kleinste Szene, die sich mit den beiden anderen kaum mischt, ist am Kotti in Kreuzberg zu Hause. Hier kommen die »outlaws« zusammen, verwahrloste Punks, Alks und Trebegänger, denen es mit Abstand am dreckigsten geht.

In der Berliner Drogenszene verkehren rund 300 Junkies. Das ist nicht viel in einer Stadt, in der über 8.000 Menschen von harten Drogen abhängig sind. Trotzdem werden die Ansammlungen in steter Regelmäßigkeit von der Polizei zerschlagen. Das Argument, der Zugang für Neueinsteiger müsse erschwert werden, halten Kabisch und Meinke für Unfug: »Wer einsteigen will, findet immer jemanden, der sich auskennt.« Strass berät Junkies, die von den Drogen wegkommen wollen, und betreut sie bei der Substitution. Aber es wird auch vollkommen akzeptiert, wenn die Junkies »einfach drauf« sein wollen. Die Hoffnung, daß sich diese tolerante Ansicht auch in der Gesellschaft durchsetzen wird, hält Kabisch und Meinke trotz der Elendsverwaltung bei der Stange.

Elendsverwaltung bedeutet, daß 40 Prozent der Szenegänger obachlos sind. Es bedeutet, Junkies, die sich einen Schuß setzen wollen, aus dem Strass-Café in der Yorkstraße wegzuschicken, weil es dort keinen »Druckraum« geben darf. »Dabei wären die Überlebenschancen ungleich höher, wenn sie dies unter Aufsicht tun könnten«, weiß Kabisch.

Ein Junkie, der konsequent »drauf« ist, braucht bis zu 20.000 Mark, um seinen Monatsbedarf zu decken. Von der Beschaffungskriminalität sind in Kreuzberg in letzter Zeit vor allem kleine Geschäfte und Alternativprojekte betroffen. In der Schokofabrik für Frauen wurde in diesem Jahr bereits zehnmal eingebrochen. »Wer so wie wir tagtäglich mit den Spritzen im Treppenflur konfrontiert wird«, so Schokofabrik-Mitarbeiterin Margot Keshishzadek, »kann nicht mehr daran vorbei, daß die Drogenpolitik grundlegend geändert werden muß.«

Das Elend der Junkies in Kreuzberg hat viele Gesichter. Das Bedürfnis, »Hauptsache breit sein, egal wovon«, hat mittlerweile solche Ausmaße angenommen, daß der eigene Körper vollkommen egal zu sein scheint. Der Entsorgungschacht des Spritzenautomaten am Kotti wird regelmäßig in der Hoffnung aufgebrochen, daß sich aus den blutverschmierten Pumpen vielleicht noch ein Druck zusammenbasteln läßt. Plutonia Plarre

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen