Das Elend der DDR-Historiker

PDS-Diskussion über „Volksaufstand oder Konterrevolution?“ / Uneingeschränktes Lob für die westliche Geschichtswissenschaft  ■  Von Walter Süß

Berlin (taz) - Beim Hineingehen sagte ein älterer Genosse zu seinem Begleiter: „1918/19, da ging es auch schon mal runter.“ Dabei machte er eine wellenförmige Handbewegung bis in Kniehöhe. Die Versammlung, die ihn drinnen, im „Rosa -Luxemburg-Saal“ der ehemaligen SED-Bezirksparteischule, erwartete, vermochte solch unterschwelligen Optimismus kaum zu stützen. 25 Leute - eine Zahl, über die sich der Diskussionsleiter „ganz toll“ freute - waren am Mittwoch abend gekommen, um sich zu informieren über die eher rhetorische Frage: „Volksaufstand oder Konterrevolution? Der 17. Juni 1953“. Die Referenten kamen vom Zentralinstitut für Geschichte.

Jochen Cerny, ein älterer Historiker, zitierte in seiner Einführung als Kronzeugen Heinz Brandt, dessen Lebensgeschichte - einschließlich seiner Entführung durch die „Stasi“ - er kurz darstellte. Brandt habe vor zwei „Legenden“ bei der Interpretation des 17. Juni gewarnt: der Ulbrichtschen Theorie vom „imperialistischen Tag X“ und der Adenauerschen These vom „Tag der Einheit“.

Tatsächlich sei es im wesentlichen ein Arbeiteraufstand gewesen. Der Referent machte allerdings deutliche Unterschiede zwischen bundesdeutscher und DDR -Geschichtswissenschaft. Die westdeutschen Kollegen hätten den 17. Juni immer „differenzierter betrachtet“ als die Regierung Adenauer, ihre Arbeiten seien seriös. Die DDR -Historiker dagegen befänden sich in einer „unglücklichen Situation“: „Wir professionellen Historiker der älteren Generation haben über all die Jahre und Jahrzehnte nichts anderes gemacht, als das wiederzukäuen, was von der Partei und Staatsführung verlautbart wurde.“

Ein jüngerer Historiker, Jan Schütrumpf, fügte hinzu: Dies und das Wissen, daß es unmöglich wäre, gegenteilige Interpretationen in der DDR zu publizieren, machte „die Forschungsarbeit unendlich mühselig, zerstörte die Motivation“. Doch das enthebe nicht von der Verantwortung: „Es gab andere Wege, die keiner von uns eingeschlagen hat, ich selbst eingeschlossen.“

Mit der Grundeinschätzung der westlichen Geschichtswissenschaft gingen alle drei Referenten konform. Zu arbeiten wäre noch in den Bereichen, wo neues Material zugänglich ist: über die verschiedenen Regionalgeschichten des Aufstands, über die Auseinandersetzungen in der SED -Führung und den Einfluß der sowjetischen Kontrollkommission. Die eigene Geschichte aufzuarbeiten, wäre ihre Aufgabe, doch sie fürchten - das klang deutlich an - daß westliche Historiker ihnen dabei zuvorkommen. Erst einmal gibt es zudem ein praktisches Problem: das Zentrale Parteiarchiv der SED ist - kaum geöffnet - schon wieder un ugänglich: In seinen Räumen lagern jetzt die D-Mark-Vorräte für den wirklichen „Tag X“, den 2. Juli.

Differenzen bei der Einschätzung des 17. Juni wurden allenfalls in Nuancen sichtbar: Jochen Cerny erwähnte häufiger, daß auch „konterrevolutionäre Elemente“ mitgemischt hätten, während seine jüngeren Kollegen mit diesem Begriff - weil er eine „Revolution“ voraussetzt nichts anfangen konnten und vor allem die „basisdemokratischen Elemente“ als Vorläufer des Herbstes 1989 betonten.

Heftiger war die Auseinandersetzung in einem anderen Punkt: ob der „Neue Kurs“ vom Frühjahr 1953 eine Chance geboten hätte für eine andere, demokratischere Entwicklung, wie Cerny meinte.

Jan Schütrumpf stellte dagegen seine Zweifel an dem demokratischen Erneuerungswillen auch der Ulbricht-Kritiker in der SED-Führung. Und selbst wenn sie ernsthaft gewollt hätten, fügte Bernd Florath hinzu: „Ohne eine Veränderung in der Sowjetunion wäre es nicht gegangen.“ Stimmt wahrscheinlich - und trotzdem hätte man es versuchen müssen.