: Das Drama von Venice Beach
Peter Sellars' „Merchant of Venice“-Inszenierung geht nach der Chicagoer Premiere auf Europatournee ■ Von Reed Stillwater
Die Bühne ist ohne jede Dekoration, im Vordergrund stehen Bürotische mit Computerterminals, Telefonen und Mikrofonen. Sie könnten einen Abflugschalter, eine Autovermietung oder das Wartezimmer einer Behörde markieren. Daß die handelnden Personen mit Ansteckmikrofonen agieren, mit Videokameras hantieren und auf Monitoren erscheinen, versetzt das Ganze ins Talkshow- Milieu. Es soll die Welt Shylocks sein, des Kaufmanns von Venedig. Ort der Handlung ist Venice, Kalifornien, jener Stadtteil von Los Angeles, der durch seine bunten Strandcafés und eleganten Rollschuhfahrer bekannt ist. Hier war Peter Sellars am Werk, das Enfant terrible der amerikanischen Opern- und Theaterszene. Seine Neuinszenierung des „Kaufmann von Venedig“ hatte Anfang des Monats am Chicagoer Goodman Theatre Premiere und geht nach dem 5. November auf Europatournee.
Die Aufstände in Videobildern
Der Regisseur, dessen Arbeiten umstritten, aber nie langweilig sind, ist dem deutschen Publikum durch Inszenierungen einer Reihe von Mozart-Opern in Erinnerung, die im Sommer 1991 im deutschen Fernsehen liefen. Wer „Don Giovanni“ in der Bronx gesehen hat, wird nicht zögern, sich auf den „Merchant of Venice“ in Venice, California einzulassen. Wichtigstes Bühnenrequisit sind eine Batterie von Videomonitoren, die das jeweilige Ambiente des Stücks ins Bild setzen: den Lido beziehungsweise den Strand von Venice, den Palast der Portia, vor allem aber jene dramatischen Ereignisse, die Sellars mit seiner Neuinszenierung bearbeiten will: die Aufstände von Los Angeles im April des Jahres 1992, die ja von Videobildern ausgelöst und begleitet worden waren; die Verprügelung Rodney Kings oder die Mißhandlung des weißen Lastwagenfahrers Reginald Denny, der in South Central in eine aufgebrachte schwarze Volksmenge geriet und fast umgebracht wurde.
Sellars gehörte damals zu einer Gruppe von Intellektuellen, die sich in LA trafen, um nach einer künstlerischen Antwort auf die Ereignisse zu suchen. In einer Diskussion mit dem Publikum berichtet Sellars, wie er damals zum „Kaufmann von Venedig“ kam, weil er einen Autor suchte, „dessen Sprache ein hohes Maß an Präzision“ aufwies. Wahrscheinlich gab eher Sellars' Wohnort Venice den Ausschlag für seine Idee. Die Handlung des „Merchant of Venice“ wurde also in die brodelnde multikulturelle Metropole LA mit ihren Rassen- und Klassenkonflikten verlegt. Shylock, der nicht anders als Rodney King vor Gericht um sein Recht betrogen wird, wird zum schwarzen Geschäftsmann. Aus den Venezianern ist eine Gang herumlungernder Hispanics geworden, aus Portia und ihrem Hofstaat hat Sellars reiche Koreaner gemacht.
Amerikas Schwarze als Europas Juden?
Und was wird dabei aus dem Drama von Venedig? Amerikas Schwarze in der Rolle des europäischen Judentums? Das geht weit über die Umsetzung eines „Don Giovanni“ in die Bronx hinaus. Die Geschichte des Juden von Venedig ist schnell erzählt. Bassanio, ein mittelloser Nichtstuer, liebt Portia, eine ebenso schöne wie reiche Erbin, um die sich Freier aus aller Welt bemühen. Um standesgemäß um sie anhalten zu können, braucht er Geld und wendet sich an seinen Freund Antonio, dessen Vermögen allerdings gerade in fünf Schiffen, die auf den fünf Weltmeeren unterwegs sind, gebunden ist. Antonio bleibt nichts anderes übrig, als bei Shylock, dem Juden von Venedig, einen Kredit von 3.000 Dukaten aufzunehmen. Der aber hat keinen Grund, Antonio oder seinen Freunden entgegenzukommen, sie haben ihn als Wucherer verleumdet und ihm geschäftlich übel mitgespielt. Shylock wittert eine Gelegenheit zur Rache und ist bereit, das Geld ohne Zinsen, aber gegen ein Pfand zu leihen.
Ein Pfund seines eigenen Fleisches muß Antonio dem Juden verpfänden. Voll Grausen will Bassanio seinem Freund den Kredit wieder ausreden, doch letztlich traut der dem Glück seiner Schiffe nicht, anders als Bassanio seinem Glück als Brautwerber. Es kommt, wie es kommen muß: Bassanio wirbt erfolgreich um Portia, Antonios Schiffe aber gehen alle unter. Shylock, dessen Tochter Jessica inzwischen samt Geld und Wertsachen mit einem aus Bassanios Clique durchgebrannt ist, besteht auf seinem Pfand, obwohl Bassanio mit dem Geld seiner Braut den Kredit doppelt und dreifach zurückzahlen könnte. Um zum Happy-End zu kommen, greift Shakespeare zu einem beliebten Mittel der Komödie, dem Rollentausch. Portia legt Männerkleider an, gibt sich als Rechtsgelehrter aus und erwirkt bei Gericht ihre Zulassung als Sondergutachter. Shylock, der sich schon am Ziel seiner Rache wähnt und schon das Messer zückt, darf zwar ein Pfund Fleisch aus der Brust des Antonio schneiden, dabei aber kein Tröpfchen Christenblut vergießen. Der Jude wird um sein grausiges Recht betrogen, und das Gericht setzt noch eins drauf: Da er einem Christen nach dem Leben getrachtet hat, geht er all seines Vermögens verlustig und muß sich taufen lassen. Als gebrochener Mann geht Shylock von der Bühne.
Das Drama, das zusätzlich von komödiantischen Motiven durchwoben ist, wird oft als groteske Komödie mit Shylock in der Rolle eines bösen Sonderlings aufgeführt. Im Deutschland der Nachkriegsjahre, das mit seiner Tradition antisemitischer Aufführungen zu brechen versuchte, gelang am Düsseldorfer Schauspielhaus dem jüdischen Darsteller Kurt Deutsch der Durchbruch zu einer Neuinterpretation der Rolle. In seinen legendären Aufführungen gab er Shylock seine Würde zurück. Für ein deutsches Publikum ist ein Shylock als tragischer Held also nicht unerhört. Ohne die Düsseldorfer Aufführungen zu kennen, knüpft Peter Sellars an deren Tradition an. In seiner Inszenierung spielt der schwarze Schauspieler Paul Buttler den Shylock mit der Würde des Opfers, den die Umstände, und nicht seine „Natur“ in Bitterkeit und Rachsucht trieben. Sein berühmter Monolog, leise, bewegend und eindringlich gesprochen, ist einer der Höhepunkte der Inszenierung: „I am a Jew. Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? Fed with the same food, hurt with the same weapons, subject to the same diseases, healed by the same means (...) a Christian is? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge? If we are like you in the rest, we will resemble you in that.“
Ist Sellars konservativ geworden?
Die Übertragung venezianischer Verhältnisse auf amerikanische gelingt letztlich nur, weil Sellars den „Merchant of Venice“ nicht als Programmstück betrachtet. „Es zahlte sich aus, an das Stück heranzugehen, als entdeckten wir es neu, Shakespeare genau zu lesen und nirgends zu kürzen“, berichtet Sellars. Mit Schauspielern aus New York, Los Angeles und Chicago ist er 35 Stunden in Klausur gegangen. „Als wir rauskamen, wußten wir, daß keiner der Charaktere gut oder böse ist, das Stück ist völlig offen, die Personen der Handlung psychologisch feinziselierte Charaktere aus Fleisch und Blut mit widerstreitenden Gefühlen. Sie alle haben ihre Schwächen. Die Venezianer sind eitle gelangweilte Taugenichtse, Antonio leiht sein Geld zinslos, nicht weil er moralisch besser wäre als Shylock, sondern um dessen Profit zu schmälern, Portia ist eine übersensible verwöhnte Frau, die Angst vor der Liebe hat.“
Die tragische Figur bei alledem aber ist Shylock. Die Chicagoer Kritik vermerkt denn auch die Texttreue Sellars' und bescheinigt ihm, bei aller Innovationsfreude, ein geradezu konservativer Regisseur zu sein. Obwohl Sellars Shylock ins Zentrum rückt und ihm zu tragischer Größe verhilft, könnte das Stück unter seiner Regie auch streckenweise die „Erbin von Venedig“ heißen, denn, mitreißend gespielt, drängt die empfindsame Portia immer wieder ins Zentrum des Rampenlichts. Und neben der Tragödie des Kaufmanns und den Leiden der jungen Waisen geraten auch die Freundschaftsverhältisse in Bassanios Clique ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wen liebt Bassanio eigentlich mehr, seine Portia oder seinen Freund Antonio, wie verhalten sich Gatten- und Freundesliebe? Hat Portia Anspruch auf den ganzen Mann, oder hat Antonio einen Anteil an ihm? Wem wird Bassanios Loyalität gehören, seiner neuen hochgestellten Familie oder seiner Gang? Man fragt sich, ob die ethnische Besetzung der Rollen hinter dem Drama ihrer Verhältnisse verblassen oder Ausdruck ethnischer Rollenzuweisungen sind: Sind Schwarze, Latinos und Asiaten aufgrund der ihnen zugewiesen Positionen und Rollen einander in unauflöslicher Verstrickung verbunden und verfeindet zugleich?
Letztlich gelingt die Transposition des Dramas von Venedig nach Venice nur um den Preis der Aufgabe seiner ursprünglichen Intention. Die Video-Close-Ups der Schauspieler zeichnen Seelenlandschaften, und die über Mikrofon ins Lautsprechersystem gesprochenen Monologe werden zu inneren Monologen. Die Talkshow, die hier anklingt, ist eher eine Seelenentblößung à la Opra Winphrey als eine kontroverse Debatte mit Larry King.
Vom 24. bis 26. und 28. bis 30.11. am Hamburger Thalia-Theater.
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