: Das Ding hinter der Wand
Die lauteste Woche der Welt: Ein schneidendes Surren und Rotieren kommt immer näher
Die Einrichtung hat noch nie ihre Wirkung auf Besucher verfehlt. Auch wenn es nur zwei gewesen sind. Der eine war ein Historiker, abgesandt von einer städtischen Kommission, die mit dem Antrag meines Vaters befasst ist, unsere Wohnung unter den Schutz der obersten Denkmalbehörde zu stellen. Er suchte umgehend das Weite, wohl um keine Sekunde zu säumen, unsere berechtigte Sache zu unterstützen.
Anders reagierte ein verirrter junger Hund, der – von mir hereingelassen – große Augen machte, das Atmen einstellte und tot umfiel. Einen Auszug aus der Wohnung, wie wohl ihn mir der sogenannte gesunde Menschenverstand schon verschiedentlich nahelegen wollte, habe ich nie in Betracht gezogen. Ich liebe die Abgeschiedenheit.
Schon lange ist es her, dass die Eltern aus Furcht vor oberirdischen politischen Verwerfungen jene Vorräte an Nahrung, Wein und Brennholz anlegten, von denen ich zehren kann, noch über Jahrzehnte, ohne meine Höhle verlassen zu müssen, so lange nur Grundwasser der Leitung entströmt.
An der Stelle in der Westwand, wo der bronzene Wasserhahn über dem steinernen Becken sitzt, ist die Bespannung angenehm algengrün. Das Marmorparkett an dieser Stelle zeigt sich aufgelockert, und der nasse Grund darunter ist leicht aufzustemmen, weshalb ich dort den Hund begrub.
Sollte es überhaupt eine bedrückende Wirkung geben, die dieser Raum auf mich und mein Innenleben ausübt, so ist sie neuerlichen Datums und liegt nicht im Interieur begründet. Sie tritt in einem gewissen Schwingungsphänomen zutage, das ich nun bereits seit einiger Zeit beharrlich wahrnehme.
Es begann damit, dass ein meterhohes Gemälde von Domenico Veneziano plötzlich von der Wand fiel. Der zentnerschwere Goldrahmen zerschmetterte das Bett, auf dem ich wenige Minuten zuvor noch geruht hatte, und wurde selbst irreparabel zerstört. Ich lauschte an der Westwand, wo sich nach angestrengtem Lauschen ein Zirpen hören ließ. Nicht lange, dann war es wieder weg. Das erstaunte mich, denn für gewöhnlich dringt durch keine der Wände ein Laut.
Meine Ohren wachsen in der unerschütterlichen Ruhe und ergötzen sich bisweilen am Sprudeln subtiler Schallquellen an der Stuckdecke mit all den Tropfsteinen, zwischen denen die Kronleuchtertrauben glühen, von elektrischem Strom gespeist, der irgendwo von der gewöhnlichen Versorgung abgezweigt wird.
Mit einem langen Hörrohr kann ich alles akustisch abtasten. Im Süden surren die Rotoren der Schächte, die unsere Wohnung mit Luft versorgen. Im Nordosten und Südosten quillt bisweilen eigenwillig moderne Musik zu mir herab oder eine zerschellende Flasche. Viel höre ich dennoch nie.
Im Südosten liegt an der Wand, da, wo das Marmorparkett in gebrannten glazialen Lehm übergeht, ein Kamin, den ich mit schier unerschöpflichem Holzvorrat aus den Lagerräumen befeuere. Droben in endloser Ferne glimmt ein Funke Tageslicht. Manchmal dringen Möwenschreie herein, das Knattern eines Aeroplans oder das Krachen eines Gewitterdonners – Geräusche aus der anderen Welt.
Nun aber tut sich etwas auf Ohrenhöhe im Westen. Das eigenartige Zirpen hat sich zu einem schneidenden Surren und Rotieren entwickelt. Es ist nun ständig zu vernehmen, was mich beim Nachdenken sehr stört, etwa wenn ich an meinem Studiertisch sitze und die Schriften der Gnostiker mit denen der Agnostiker vergleiche, oder sonst irgendein Buch aus der Sammlung meines Vaters lese.
Gestern nun fielen auf einen Schlag alle Bilder von den Wänden. Die Bücherregale stürzten ein. Es klang wie eine Explosion. Sollte der Krieg, den meine Eltern befürchteten, nun doch noch ausgebrochen sein? Aus dem Wasserhahn kommt seit Tagen kein Wasser mehr, und da ich nicht ausschließlich Wein trinken kann und mich nicht damit waschen möchte, werde ich wohl gezwungen sein, nach droben zu gehen, um Spezialisten in die Unterwelt zu bitten. Die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens wirft mich gleich wieder auf die Chaiselongue.
Die Stiege führt weit hinauf, bis zur Tür mit dem Briefschlitz. Dort erwartet mich eine Sturzflut von Briefen. Vierzig oder fünfzig Meter weit sind sie über die Treppen heruntergeflossen. Es sind teils fünf, teils zehn Jahre alte Sendungen, deren Absender wohl die irrige Auffassung hegten, meine Eltern würden sich zu Antworten bewegen lassen.
Ich flüchte mich in die Lektüre dieser Briefe, als könnten sie mir den schmerzlichen Weg ersparen. Leicht zittern und klirren die Kristallleuchter, und hinter der westlichen Wand nähert sich etwas. Kreischend rotiert es, mahlt und schiebt sich vor. Nichts kann es aufhalten. Brief um Brief fällt mir gelesen aus den Händen. Nichts davon scheint mich anzugehen, bis auf ein Schreiben, das amtlichen Charakters ist: „Leider konnte Ihrem Antrag nach eingehender Prüfung nicht entsprochen werden. Wir müssen Sie nun im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit auffordern, die infrage stehenden Räume aufzugeben, da sie im Zuge der neuen Streckenplanung …“
Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment durchstößt das Ding die westliche Wand. Ein Höllenlärm erfüllt den Saal und das Ungeheuer zermalmt die bizarre rote Seidentapete gerade über der Stelle, wo neben meinen Eltern der Hund begraben liegt. Verzeihung, aber ich fürchte, jetzt muss ich doch gehen!
TOM WOLF