■ Das Buch des amerikanischen Politologen Daniel Jonah Goldhagen wird keinen neuen Historikerstreit auslösen: Little Historians
„Little Hitlers“ hat Elie Wiesel seine Rezension eines Buches genannt, das dieser Tage in den USA erschienen ist und dort zum Teil hymnisch gefeiert wurde: „Hitler's Willing Executioners“ von dem Harvard-Politologen Daniel Jonah Goldhagen (36) belebt die These von der deutschen Kollektivschuld neu. Die aktuelle „Zeit“ brachte einen Auszug aus dem Buch, das im Sommer auf deutsch beim Siedler Verlag erscheinen wird.
Goldhagen ist der Auffassung, nicht die „Schreibtischtäter“ sollten im Mittelpunkt des Interesses stehen, auch nicht diejenigen, die in den Vernichtungslagern arbeiteten. Diese nämlich sind für ihn „trotz ihrer enormen ,historischen‘ Bedeutung nicht von brennendem ,analytischem‘ Interesse. Die Konzentrationslager, wenn auch kaum ihr Personal, sind bereits Gegenstand zahlreicher Studien geworden.“ Er wolle sich den Menschen widmen, die in deutschen Institutionen vor allem des besetzten Osteuropa beschäftigt waren. Sie alle hätten, „überspitzt formuliert“, „Beihilfe zum Völkermord geleistet“ und ihre Zahl gehe in die Millionen – eine These, die Goldhagen stützt, indem er „diejenigen Wehrmachtsangehörigen mit einbezieht, die sich der Komplizenschaft schuldig gemacht haben“. Der Kern seines Buches ist die Behauptung, daß die deutsche Form des Antisemitismus so sehr viel tiefer ging als in anderen Ländern, daß es auch den Millionen Deutschen, die nicht unmittelbar an der Vernichtung beteiligt gewesen waren, ein inneres Anliegen sein konnte, an der „umfassenden Tötung aller Juden aller Länder“ mitzuwirken.
Der Vater des Autors, Erich Goldhagen, hat das jüdische Ghetto im rumänischen Czernowitz überlebt und einen Großteil seiner Familie im Holocaust verloren. Er war 25 Jahre lang Harvard-Professor und lehrte zum selben Thema.
Zunächst einmal überrascht der Hype: Goldhagens „überwältigende Beweise“ (Elie Wiesel) für die doch wohl nicht so taufrische These von der deutschen Kollektivschuld – in vierzehn Monaten Recherche bei den Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg zusammengetragen – bestehen im wesentlichen aus einer Aneinanderreihung von Anekdoten. So zitiert er etwa in romanesker Breite Beschwerden aus dem zeitweise in Polen stationierten Polizeibataillon 101 über die schwangere Ehefrau eines Polizisten, die sich gescheut habe, einer ganztägigen Tötungsaktion auf dem Marktplatz von Miedzyrzec beizuwohnen. Dabei habe es, so Goldhagen, überall in Polen deutsche Frauen gegeben, „und das bedeutete, daß sie von den Massentötungen wußten“.
Abgesehen davon, daß es über dieses Polizeibataillon schon ausführliche, solider wirkende Untersuchungen gab (Christopher Browning, „Ordinary Men“, 1992) – die leicht angewiderten Auslassungen Goldhagens über schwangere deutsche Nazifrauen gehören eher in das Arsenal der Nazi- Scum-Ikonographie von Billigvideos, in der sie dann immer Hilde oder Else heißen.
Auch sonst ist das Buch mit der „vorbildlichen Forschung“ (der Historiker Gordon A. Craig) gespickt mit Adjektiven wie „gewaltig“, „enorm“ „radikal“, „krankhaft“. Man hat den Eindruck, der Antisemitismus werde hier eher beschworen als untersucht. „Warum veranstalteten sie Feste anläßlich bedeutender Massaker, Tötungen oder sonstiger Ereignisse?“ fragt sich der Autor und kommt zum Bild einer „Gemeinschaft, in der der Völkermord, das Töten von Juden, die Norm und oftmals Anlaß zum Feiern war“. Vernichtungsorgien für die ganze monströse Familie von Hitler's little helpers – in der Tat wird hier das Fantasy-Material der vierziger und fünfziger Jahren neu aufbereitet, eine Art „Pulp Fiction“ mit soziologischem Tarncode.
Jedenfalls wundert einen überhaupt nicht, daß der sehr renommierte und durchaus auch auf Breitenwirkung orientierte universitätseigene Verlag Harvard University Press lieber darauf verzichtete, Goldhagens Buch zu publizieren. Auch daß jemand wie der Historiker Raul Hilberg – der Jahrzehnte an den verschiedenen Funktionssystemen der damaligen Gesellschaft forschte, bis er sich an eine Beschreibung wagte – „nichts Interessantes an dem Buch gefunden hat“, erstaunt nicht. Interessant ist an dieser Publikation ausschließlich ihre Rezeption:
In Amerika findet Goldhagen, so darf man vermuten, mehr Beifall als beispielsweise Hilberg, weil dieser sich mit seiner Kritik an der Arbeit der „Judenräte“, seiner Kühle und Komplexität Sympathien verscherzt hat. Einen quasi genetisch transferierten und entsprechend „in Fleisch und Blut übergegangenen“ Antisemitismus, der eigentlich ganz gut ohne sozialen Kontext auskommt, als einzigen Motor der Vernichtungsmaschinerie auszumachen erlaubt auch, ihn als permanente, wenn auch latente Drohung zu charakterisieren. Schon möglich, daß eine solche Drohung amerikanischen Juden als brauchbarer Schutzschild gegen die antisemitische Verdächtigungsrhetorik von Leuten wie dem schwarzen Aktivisten Louis Farrakhan erscheint oder auch als identitätsstiftend in Zeiten schwindender Bindung an die Religion. Gordon A. Craig schrieb in der New York Review of Books begeistert, Goldhagens Buch beweise seine These, daß die jüdische Kultur von alters her auf Aufklärung zugelaufen sei und daß die Weltgeschichte darauf als Antwort nur den Judenhaß und den Holocaust parat gehabt habe.
Was aber die Hamburger Zeit geritten haben mag, dieses Machwerk mit dem Startschuß für einen „neuen Historikerstreit“ zu versehen, lohnt einen Moment verwunderten Nachdenkens. Wenn es doch bloß einzig der Wunsch gewesen wäre, endlich einmal wieder mit irgendwas ins Gespräch zu kommen, und sei es unter erheblichem Absenken des Niveaus von vor zehn Jahren! Aber es ist mehr als nur eine publizistische Strategie.
Es ist die zur Flagellanten-Geste verkommene Selbstbezichtigungsrhetorik, der die komplexen Ergebnisse der traditionellen Antisemitismusforschung aus Berlin, Hamburg, Frankfurt zu dürr, zu kühl, zu soziologisch, zu systemisch und temporär sind. Auch die aktuelle Annäherung zwischen „Intentionalisten“ (der Führerwahn war schuld) und Funktionalisten (das System der NS-Herrschaft war es) – von der offenbar weder Goldhagen noch sein Zeit-Mentor Volker Ullrich weiß – bietet dieser Rhetorik genügend Stoff. Erst die Dämonisierung deutscher Innenansichten liefert das rechte Maß an Scham, Schicksalsmacht und Zerknirschtheit, das hier offenbar noch immer gebraucht wird. Mariam Niroumand
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