: Das Bonner Raumschiff ist überall
■ Plädoyer gegen den Regierungssitz/ Diskussion um eine neue deutsche Identität muß auf einen anderen Gegenstand verlagert werden/ Lebensbedingungen in Berlin würden sich verschlechtern
Auffällig an der Diskussion um einen bzw. den angemessenen Standort der künftigen gesamtdeutschen Regierung ist das schwere symbolische Gepäck, das diese gegenwärtig mit sich herumträgt. Sowohl die SympathisantInnen als auch die GegnerInnen einer Verlagerung des Regierungssitzes nach Berlin bemühen die deutsche Geschichte, berufen sich auf regionale, römisch-katholische oder protestantische Traditionen und Scheidelinien, sie führen faschistische und bürgerliche Bewegungen ins Feld, und sie spannen schließlich einen Bogen in die Gegenwart von der räumlichen Nähe zu den Ostblockstaaten bis hin zur Kreuzberger Demonstrationsbereitschaft.
Warum ist die Diskussion um Hauptstadt und Regierungssitz mit soviel Pathos aufgeladen? Genauer besehen entlädt sich an der Frage nach einem Standort für das gesamtdeutsche Parlament das Bedürfnis nach einem nationalen Selbstverständigungsprozeß über eine künftige deutsche Identität. Wer sind wir heute, wenn nicht mehr die kleine Bundesrepublik, auf welche Traditionen können und müssen wir uns beziehen, und an welchen Zielen und Werten soll man sich national wie international orientieren?, lauten die Fragen, die in der Debatte um die Hauptstadt beständig mitschwingen. So notwendig eine solche Diskussion ist, bleibt doch zu fragen, ob die Wahl des Regierungssitzes der geeignete Anlaß dafür ist. Aus dem Blick geraten dabei die schnöden materiellen Fakten und Folgen, die mit einem Umzug des Bonner Apparats — und seien es auch nur Teile davon — verbunden wären. Wir plädieren dafür, den Diskurs rund um die deutsche Identitätssuche auf einen anderen Gegenstand zu verlagern und die Frage des Regierungssitzes ein wenig nüchterner zu betrachten.
Es müßte erstens erwogen werden, welchen Einfluß man sich von der geographischen Lage oder auch den sozialen Verhältnissen in einer Stadt realistischerweise auf politische Entscheidungen erwarten kann. Wenn ein Begriff den parlamentarischen Betrieb in Bonn wirklich treffend kennzeichnet, so ist es der des Raumschiffes. Mit Hilfe der neuen Kommunikationsmedien und der Verkehrsinfrastruktur ist wohl in allen modernen Hauptstädten eine geradezu künstliche Welt entstanden. In ihrer Kombination bilden sie eine Art Kokon, der die Politik von ihrer Umwelt fast hermetisch abschottet. Das Bonner Raumschiff ist eben keine Bonner Besonderheit, sondern Ausdruck eines Politikstils, der sich von früheren Dekaden unterscheidet und mit Sicherheit überall aufs neue durchsetzen würde. [...]
Argumente gegen den Regierungssitz:
1.Die zusätzlich in die Stadt ziehenden Menschen aus vor allem gehobenen Einkommensgruppen, die uns die Hauptstadtfunktion bescheren würde, verlangen nach Wohnungen und Büros in attraktiven Lagen. Innerhalb kürzester Zeit wären die Grundstückspreise im Innenstadtbereich auf einem so hohen Niveau, daß ein Verdrängungsprozeß aller, die finanziell nicht mithalten können, die unvermeidliche Folge wäre. Die soziale Entmischung schöbe die Menschen mit niedrigen Einkommen in die Vorstädte ab.
2.Zentrale politische Funktionen verlangen darüber hinaus nach einer speziellen Infrastruktur und einem Stadtbild, das sich sehen lassen kann. Es geht eben nicht nur um zusätzliche Wohnungen, Büros und Verkehrswege, sondern auch um Sicherheitsvorkehrungen. Das alte Berliner Zentrum würde sich notgedrungen in eine einzige Bannmeile verwandeln, das Polizeiaufgebot würde beträchtlich aufgestockt: der permanente Ausnahmezustand als Alltagserscheinung. Polenmärkte, rumänische Wohnwagen und Obdachlosensiedlungen haben übrigens vor dem Amtssitz der Regierung auch keinen Platz mehr.
3.Da ist natürlich noch die verlockende Aussicht auf zusätzliche Einnahmen für die Stadt. Hauptstädte kriegen bekanntermaßen ja immer ein bißchen mehr als die anderen. Wer allerdings meint, daß von diesem Geldsegen alle BewohnerInnen etwas abkriegen würden, sitzt vermutlich einem Irrtum auf. Die zusätzlichen Finanzmittel sind gerade nicht für sozialpolitische Zwecke gedacht, sondern sie dienen der Repräsentationsaufgabe der Stadt. [...]
4.All jene, die meinen, solche Prognosen seien nichts als düstere Schwarzmalerei und eine konfliktfreudige Stadtregierung sei in der Lage, diese Entwicklung zu verhindern, unterschätzen die Eigendynamik einer Aufwertung zum Regierungssitz. Im übrigen übersehen sie, daß Stadt- und Landesregierungen, die nationale Regierungen beherbergen, in der Regel wenig politisches Gewicht haben. In London etwa wurde die Stadtregierung gleich ganz abgeschafft. [...]
Viele von denen, die unsere Einschätzung der Folgen einer Entwicklung zur Regierungsstadt teilen, schlagen daher eine nur teilweise Verlagerung der Regierungsfunktion nach Berlin vor. Unserer Ansicht nach unterschätzt dieser Vorschlag die Eigendynamik eines solchen halben Schritts: Sitzen erst mal die Regierung und das Parlament in Berlin, werden die Lobbyisten, große Unternehmenszentralen und Verbände nachziehen — man sitzt eben gern im Dunstkreis der Macht. [...]
Fazit: Außer ein paar zusätzlichen Arbeitsplätzen sind durch einen Umzug der gesamtdeutschen Regierung nach Berlin keine positiven Auswirkungen zu erkennen. Im Gegenteil, die Lebensbedingungen in der Stadt würden sich für alle, je nachdem wie schlecht sie derzeit sind, weiter verschlechtern. Willi Brüggen
Andrea Fischer
Michael Haberkorn
Jeanette Hofmann,
Frieder O. Wolf
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